Digitale Bildung – eine Lüge?

Der Autor und Wirtschaftsjournalist Ingo Leipner im Gespräch mit dem Neurobiologen Konrad Lehmann

„Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter", lautet die zentrale These von Ingo Leipner und Gerald Lembke in ihrem Buch „Die Lüge der digitalen Bildung". Sie fordern, den Medienzugang für jüngere Kinder drastisch einzuschränken. forum wollte wissen warum und ob wir damit nicht den internationalen Anschluss verlieren.
 
Grundschulkinder können am Tablet ihr Wissen über Wikinger zusammenstellen. Soll das verboten werden?
Ingo Leipner. © EcoWordsWie wollen Sie etwas verbieten, was in unserer digitalisierten Welt allgegenwärtig ist? Mit Verboten kommen Sie überhaupt nicht weiter. Wir fordern aber digitalfreie Oasen in Kindergärten und Grundschulen. Weiterführende Schulen wie Gymnasien haben dagegen sogar die Pflicht auf das digitale Zeitalter vorzubereiten. Dazu braucht es aber Kulturtechniken wie Konzentrationsfähigkeit; kritisches, selbstreflexives Denken und produktive Fähigkeiten wie gutes Schreiben, Fotografieren und Filmen. Das sollten Schüler lernen, weil sie dann auch gut mit Wikis oder Videos umgehen können. Auf die Inhalte kommt es an, egal ob sie analog in einem Buch auftauchen – oder digital in einem YouTube-Video. Leider lautet die gängige These: Je früher die Kinder mit dieser Technik umgehen, desto besser werden sie damit später arbeiten können. Also lasst uns auch die Kindergärten digitalisieren. Und das hat „Microsoft" aus reiner „Nächstenliebe" bereits macht: Der Konzern verschenkte an rund 8.000 Kindergärten sein Lernprogramm „Schlaumäuse".
 
Was ist daran verkehrt?
Wir vertreten in unserem Buch das Gegenteil und sagen „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter", denn die Entwicklungspsychologie zeigt, dass Kinder ungefähr ab dem 12. bis 14. Lebensjahr beginnen, abstrakt zu denken und erste Möglichkeiten der Selbstreflexion entwickeln. Wir orientieren uns hier am Vier-Stufen-Modell der kognitiven Entwicklung, das der berühmte Entwicklungsbiologe Jean Piaget entwickelt hat. Bemerkenswert ist, dass in der vierten „formal-operatorischen Phase" ab etwa 12 Jahren Kinder zum ersten Mal in der Lage sind, wirkliche Denkoperationen durchzuführen – und ihre Urteile eher auf Logik als auf Wahrnehmung aufbauen. Das scheint für uns die Voraussetzung zu sein, um wirklich gut mit Computern zu arbeiten. Dieser These stimmt auch die Neurobiologin Prof. Gertraud Teuchert-Noodt zu. Sie fordert, dass bis zu diesem Entwicklungsschritt Kinder ihren „kognitiven Rucksack" gut füllen – mit reichen Erfahrungen aus der realen Umwelt. Die Forderung der Neurobiologin bedeutet: Zwischen ihrer Geburt und etwa dem 12. Lebensjahr sollten Kinder viel in der realen Welt unterwegs sein: Sport und Musik machen, Toben, Klettern, Balancieren – und nicht in Bildschirme starren. Kinder brauchen diese starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie sich in virtuelle Abenteuer stürzen.
 
Warum ist diese Verwurzelung so wichtig, wenn heute digitale Medien auch ein Teil der Realität sind?
Durch ihre senso-motorischen Erfahrungen bauen Kinder absolut notwendige Denkstrukturen auf. Diese Strukturen im Gehirn brauchen sie als Jugendliche später, um als kritische und selbstbewusste Bürger im Internet unterwegs zu sein. Das klappt aber nur, wenn Bildschirme nicht zu früh die Lebenszeit fressen, in der Kinder die Welt begreifen lernen. Das Wort „begreifen" hängt nicht zufällig mit dem Verb „greifen" zusammen. Jugendliche entfalten ihr volles kognitives Potenzial, wenn die Reifung des Gehirns in den ersten Lebensjahren nicht gravierend gestört wird, etwa durch Tablets im Kindergarten. Da helfen auch keine „gutgemachten Fernsehbeiträge", weil sie besonders Kleinkindern nur einen verengten, eindimensionalen Pseudo-Zugang zur Welt bieten – ohne jede Lebenswirklichkeit. Die „Teletubbies" werden als kindgerechte Sendungen gefeiert, halten aber kleine Zuschauer davon ab, die Welt selbst zu entdecken. Oder haben Sie schon einmal in der Hasenlandschaft der „Teletubbies" Urlaub gemacht?
 
Schließt sich das aus? Reale Welterfahrung und virtuelles Erleben am Computer?
Ja, das schließt sich inzwischen aus! Bei den heutigen Nutzungszeiten digitaler Medien ist es eine Illusion zu glauben, Bildschirme würden keine Welterfahrung verdrängen. Das Gegenteil ist der Fall: Laut KIM-Studie 2014 kommen Acht-bis Neunjährige bereits auf eine tägliche Bildschirmzeit von rund 2,5 Stunden; bei Zehn-bis Elfjährigen sind es schon rund 3,5 Stunden. Dabei liegt das Fernsehen an der Spitze – und wir sprechen hier nicht von den Intensiv-Nutzern, die in höheren Altersgruppen bis zu zehn Stunden am Tag vor dem Bildschirm verharren. Bei den Jugendlichen ab etwa 12 Jahren werden die Folgen nicht so dramatisch sein. Aber jüngeren Kindern gehen wichtige Freiräume verloren, in denen sie eigentlich ihrer Denkfähigkeit entwickeln müssten, und zwar durch handfeste Erfahrungen in der realen Welt. Natürlich kommen sie später in Kontakt mit digitalen Medien. Es liegt dabei in der Verantwortung der Eltern, wie sie das dosieren. Paula Bleckmann zeigt in ihrem lesenswerten Buch „Medienmündig", wie Familien viel Freiheit und Lebensfreude gewinnen – ohne Bildschirm-Medien.
 
Auch über Lernsoftware sind Sie nicht besonders begeistert, weil sie nach Ihrer Ansicht über ständige positive Rückkopplungen das extrinsisch motivierte Belohnungslernen fördert und dadurch die intrinsische Motivation, sich in ein Problem zu verbeißen und es zu bewältigen, zerstört.
Die Psychologie macht einen klaren Unterschied zwischen einer extrinsischen und intrinsischen Motivation. Wer intrinsisch motiviert lernt, kommt zu besseren Ergebnissen. Dagegen sind „Belohnungssysteme" des „eLearings" viel weniger fruchtbar, wenn es um den Lernprozess der Schüler geht. Wir können sogar die intrinsische Motivation zerstören, wie weitere Experimente von Psychologen ans Tageslicht gebracht haben. Prof. Udo Rudolph von der TU Chemnitz hat festgestellt: Eine bereits vorhandene hohe intrinsische Motivation lässt sich durch externe Belohnungen abschwächen oder völlig zum Verschwinden bringen. Psychologen nennen das auch „Korruption durch extrinsische Motivation".
 
Was ist aber mit multimedialen Projekten?
Bei ihnen stellt sich einfach die Frage nach der richtigen Altersgruppe: Wenn Oberstufen-Schüler sich beim Hochsprung filmen und anschließend ihre Leistungen im Video auswerten. Prima! Da sind digitale Medien kein Selbstzweck, sondern sie dienen der Gestaltung des realen Lebens. Schulwikis mit Videosequenzen sind klasse, wenn die Schüler vorher gelernt haben, gut zu schreiben und zu filmen. Peinlich wird´s, wenn einfach schlampige Texte hochgeladen werden – und jeder sehen kann, wie schlecht der Unterricht in deutscher Sprache gewesen sein muss. Die Form darf eben nicht den Inhalt schlagen: Ob ich eine gute Argumentation mit Bleistift auf ein Blatt Papier schreibe oder sie in ein „Content Management System" (CMS) eingebe, ändert nichts an der Qualität der Gedanken. Alter Spruch für das Verhältnis zwischen Mensch und Computer: „Garbage In, Garbage Out", was heißen soll: Wer Müll in den Rechner eingibt, braucht sich nicht zu wundern, wenn Müll wieder herauskommt. Da hilft auch die tollste Software nichts.
 
Die ideale Lernumgebung für Kinder, die Sie in Ihrem Buch darstellen, ist sehr romantisch: Dämme bauen im Bach, Schneckenrennen, Frösche fangen. Sicher eine wünschenswerte Umwelt für Kinder, aber lernen Kinder in einer solchen ländlichen Umwelt die Fähigkeiten, die sie in der urbanisierten Welt brauchen? Da die meisten Kinder in Städten aufwachsen ist doch ein kindgerechtes digitales Angebot besser als gar nichts? Plakativ: Ist kindgerechtes Edutainment nicht besser als RTL2?
Wir kommen ja zu dem provokanten Schluss: Es gibt für Kinder zwischen ihrer Geburt und etwa dem 12. Lebensjahr keine kindgerechten digitalen Angebote, weil sie wertvolle Lebenszeit fressen. Das habe ich vorhin versucht zu erklären. Sich zwischen „kindgerechtem Edutainment" und RTL zu entscheiden, ist für Eltern eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Zumal die Kinderprogramme von RTL perfekt manipulieren und die Kinder in eine geschlossene Welt aus Merchadising-Produkten locken. Wer crossmediales Content-Marketing studieren will, muss sich nur auf den „kindgerechten" Websites von RTL umschauen – und ihm wird Hören und Sehen vergehen, wie genial hier wehrlose Kinder zu kritiklosen Konsumenten erzogen werden.
 
Aber die wenigsten Kinder werden auf dem idyllischen Land groß…
Stimmt, aber auch für Stadtkinder gibt es Bolzplätze und Sportvereine. Klettergerüste finden sich auf vielen Spielplätzen, Parks mit großen Grünflächen laden zum Toben unter freiem Himmel ein. Kindern bietet sich heute eine Vielfalt von Aktivitäten, gerade in der Stadt: Töpferkurse, Bootsbau, Theater spielen, Musizieren, Tanzen, Ballett, Eislaufen … soll ich noch weiter machen? Ein netter Cartoon bringt die Sache auf den Punkt: Im ersten Bild beklagt sich die Mutter beim Kind: „Warum hast du dich so dreckig gemacht?" Im zweiten Bild sitzt das Kind vorm Rechner – und die Mutter sagt: "Geh doch mal raus und mach dich dreckig!" Das ist noch eine wache Mutter! Doch für viele Eltern sind digitale Medien inzwischen perfekte Babysitter geworden: Bleibt das Kind zuhause, kann ihm „da draußen" nichts passieren - in der furchtbaren Welt voller Gefahren. So werden die Kinder in den zerstörerischen Sog dieser Medien gezogen – und manche Eltern setzen dazu keinen Kontrapunkt mehr, weil sie oft vom digitalisierten Arbeitsleben so zermürbt sind, dass ihnen die Kraft zur wirklichen Erziehungsarbeit fehlt.
 
Aber brauchen wir nicht die Medienkompetenz der „digital natives" ganz dringend?
Mir fällt dazu nur der Alarmismus ein, der seit Herbst 2014 mit der „ICLIS 2013"-Studie verbunden ist. Das fast einhellige Echo lautet: Deutschland liegt bei der Digitalisierung der Schulen weit zurück, wir verpassen den Anschluss an globale Entwicklungen. Unterschwellig klingt mit, unser Wohlstand sei in Gefahr. Denn die internationale Vergleichsstudie attestierte deutschen Achtklässlern nur Mittelmaß, wenn es um die Nutzung von Computern geht. Daher ist die Digitalisierung der Schulen mit Volldampf voranzutreiben, so die einhellige Forderung aus Politik und Wirtschaft.
 
Ist das nicht naheliegend, wenn man liest: Deutsche Schüler würden nur im Mittelfeld liegen?
Ja, scheinbar … Wir ziehen aber ganz andere Schlussfolgerungen aus dieser weltweiten Vergleichsstudie, die sich mit 13- bis 14-jährigen Schülern beschäftigte (8. Klasse): 29,2 Prozent der deutschen Schüler landeten auf den basalen Kompetenzstufen I und II. Außerdem kamen 45,3 Prozent nicht über die Kompetenzstufe III hinaus. Fast die Hälfte aller Schüler war nur mit Hilfestellung in der Lage, am Computer zu arbeiten. Nur 1,5 Prozent der Schüler erreichten die höchste Kompetenzstufe V. Aus unserer Sicht ist das kein Beinbruch, weil die Entwicklungsbiologie kaum etwas anderes erwarten lässt, wie ich weiter oben mit Hilfe Piagets begründet habe. Die Studie stützt sogar dramatisch unsere These: Echte Medienkompetenz kann erst ab der 8. Klasse entstehen, vorher sind ganz andere Kompetenzen gefragt – und die Kinder werden am Computer systematisch überfordert. Wir sollten einsehen, dass das kindliche Gehirn bis zum Alter von 12 bis 14 Jahren – und weit darüber hinaus - eine „Großbaustelle" ist. Allmählich reifen kognitive Funktionen, allmählich werden die Kinder erwachsen und lernen, über sich und die Welt nachzudenken. Da nützt es nichts, Grundschülern ein Tablet in die Hand zu drücken. In der illusorischen Erwartung, sie würden so „früh" Medienkompetenz aufbauen.
 
Das Interview ist zum ersten Mal bei „Telepolis" (heise.de) erschienen.
 
Der Wirtschaftsjournalist Ingo Leipner hat Lehraufträge an der „Dualen Hochschule Baden-Württemberg" (DHBW) in Mannheim und gibt Workshops zum journalistischen Schreiben. Seine Themen: Unternehmenskultur, Ökonomie/Ökologie oder Erneuerbare Energie. Kritisch verfolgt er die digitale Transformation der Gesellschaft, und zwar in seinen Büchern „Zum Frühstück gibt’s Apps"/Springer Spektrum; „Die Lüge der digitalen Bildung"/Redline (gemeinsam mit Gerald Lembke).
 
Wie die zunehmende Digitalisierung unsere Arbeitswelt dramatisch verändert, ist auch im neuen B.A.U.M.-Jahrbuch für 2017 ein heißes Thema. 

Kontakt: Textagentur EcoWords | ingo.leipner@ecowords.de | www.ecowords.de
 

Gesellschaft | Bildung, 17.01.2017

     
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