"Bio" gehört die Zukunft

Landwirtschaft als mehrdimensionale Kulturleistung

Die Praktiken der industriellen Land- und Lebensmittelwirtschaft stehen spätestens seit der schonungslosen Bestandsaufnahme des Weltagrarberichts 2008 in der Kritik. Während Vertreter aus Politik und Wirtschaft die Ergebnisse der knapp 400 beteiligten Agrarexperten geflissentlich ignorieren, regt sich bei Bauern, Verarbeitern und Verbrauchern zunehmend Widerstand gegen die rücksichtlose Gewinnmaximierung innerhalb der intensivierten Landwirtschaft, die vielerorts Böden, Gewässer, Mensch und Tier sowie das Klima schädigt.

Landwirtschaft ist eine unentbehrliche Kulturaufgabe und Bauern und ihre Familien sind Träger dieser Kultur.
Foto: © LaSelva
Tatsächlich steht das System mit dem Rücken zur Wand: Weltweit leidet knapp eine Milliarde Menschen an Hunger. Die Millenniumsziele, Hunger und Armut bis 2015 zu halbieren, sind weiter entfernt denn je. Denn neben einer stetig wachsenden Bevölkerung verhindern ein zunehmender Mangel an Ressourcen, Wasser und fruchtbaren Böden sowie eine ungerechte Ausgestaltung des Weltmarktes, dass alle Menschen satt werden.

Und während die einen nicht wissen, ob und wie sie den nächsten Tag überleben, plagen die Menschen in den Industrienationen Probleme ganz anderer Art: Hier sterben jährlich mittlerweile genauso viel Menschen an den Folgen von Übergewicht und Fehlernährung, wie andernorts an den Folgen von Hunger.

Der fatale Preis moderner konventioneller Landwirtschaft
Es zeigt sich, dass die globale Landwirtschaft zunehmend als Wirtschaftszweig angesehen wird, der vor allem eins sein soll: profitabel. Dazu wurde allerorts technisiert, rationalisiert, konzentriert und intensiviert. Nach der Industrialisierung und Globalisierung der Landwirtschaft versorgt der Landwirt heute nicht mehr seine unmittelbare Umgebung mit Lebensmitteln, sondern produziert mit Blick auf den Weltmarkt. Während ein deutscher Landwirt zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vier Menschen ernährte, sind es heute mehr als 140 Menschen. Doch diese Landwirtschaft hat einen hohen Preis. Neben immensen ökologischen Kosten zeichnet sich mit der "Wachsen oder Weichen"-Mentalität der letzten Jahrzehnte auch ein soziokultureller Verlust ab. Denn Landwirtschaft ist keine Wirtschaftssparte wie jede andere. Landwirtschaft ist eine unentbehrliche Kulturaufgabe und Bauern und ihre Familien sind Träger dieser Kultur.

Auf den ökologischen Landbau!
Foto: © LaSelva
Der Landwirt als Kulturwirt
Bezeichnenderweise leitet sich Kultur von den lateinischen Begriffen cultura (= Bearbeitung, Pflege, Ackerbau) und colere (wohnen, pflegen, den Acker bestellen, kultisch verehren) ab. Der Mensch hat die Erde "kultiviert", Böden beackert, Gärten angelegt, Pflanzen gezüchtet und Tiere domestiziert. Die erste Kulturleistung des Menschen bestand darin, das eigene Überleben zu sichern, indem er das ihm anvertraute Land achtsam gestaltete und nachhaltig nutzte. Die Bauern von einst waren Gestalter und Erhalter gleichermaßen. Lange bevor das Prinzip der Nachhaltigkeit in Gefahr geriet, zum inhaltsleeren Modebegriff zu verkommen, waren die Bauern bereits den Grundsätzen nachhaltigen Denkens und Handelns eng verbunden. Aus einem einfachen Grund: Negative Folgen nicht nachhaltigen Wirtschaftens hätten sich direkt auf die Nachkommen - die eigenen Kinder und Enkel - ausgewirkt. So gesehen waren die Bauern der ersten Stunde nicht nur Begründer und Bewahrer von Traditionen und einem unschätzbar wertvollen Wissen über die vielfachen Abhängigkeiten der menschlichen Existenz innerhalb der Natur, sondern auch die ersten Vertreter einer erfolgreich gelebten Nachhaltigkeitskultur.

Dementsprechend hat bäuerliches Handeln hinsichtlich der gesamtkulturellen Entwicklung des Menschen Modellcharakter. Denn angesichts von Wirtschafts-, Finanz- und Nahrungsmittelkrisen wird deutlich, dass das Leben der Menschen weltweit noch immer von dem Kampf ums Überleben, um Nahrung, sauberes Trinkwasser und den Zugang zu Ressourcen dominiert wird. Dieser Kampf wurde von den bäuerlichen Gemeinschaften mittels eines Wertgefüges gewissermaßen "kultiviert": durch eine enge Bindung an Familie und Standort, von Respekt und Demut geprägten Naturbezug, Langfristigkeit, Hilfsbereitschaft, Fairness und Verantwortung innerhalb der Handelsbeziehungen sowie eine täglich gelebte Generationenverbindlichkeit. Doch dieser Kulturbeitrag der Landwirtschaft wurde zunehmend ökonomischen Zwecken und Zwängen geopfert. Das Verhältnis von Kultur und Natur ist den Menschen mit der Industrialisierung der Landwirtschaft verlorengegangen. In vielerlei Hinsicht ist dieses Wertgefüge in der ökologischen Landwirtschaft verwirklicht.

Durch weitgehende Kreislaufwirtschaft und Bindung der Tierhaltung an betriebseigene Flächen werden Ressourcen geschont und regionale soziale Gefüge und Gemeinschaften gestärkt.
Foto: © LaSelva
Natur als Lebensgrundlage
Eine moderne transindustrielle Form des Landbaus ist die ökologische Landwirtschaft. Im Bio-Landbau steht nicht nur die Produktion gesunder, unbelasteter und schmackhafter Nahrungsmittel im Vordergrund, sondern auch der Erhalt ökologisch intakter Systeme und der Biodiversität. Es gilt, die Natur als Lebensgrundlage des Menschen zu schützen und zu erhalten - die erste und wichtigste Kulturaufgabe der Landwirtschaft.

Der ökologische Landbau trägt durch vielfältige Maßnahmen zu dieser Kulturleistung bei: Durch konsequenten Erhalt gesunder Böden wird die Grundlage der menschlichen Nahrung dauerhaft gesichert. Altes, zum Teil in Vergessenheit geratenes Wissen wird wiederbelebt, seltene Tierrassen und Pflanzensorten vor dem Verschwinden bewahrt. Innovations- und Entwicklungsbereitschaft werden im ökologischen Land- und Lebensmittelhandwerk groß geschrieben. Dadurch entstanden in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur umweltfreundliche Produktions- und Verarbeitungstechniken, sondern auch vielfältige soziale Innovationen, wie stabile, auf Langfristigkeit angelegte Handelsbeziehungen, Fairness und Verantwortung zwischen Urproduktion und verarbeitendem Gewerbe sowie eine stärkere Gewichtung von sozialen Belangen, wie eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Naturnahe Bewirtschaftungssysteme schaffen ferner neue Lebensräume für Wildtiere und Nützlinge. Der Verzicht auf Pestizide und chemisch-synthetische Dünger schont nicht nur die Böden und trägt zum Erhalt der Artenvielfalt bei, sondern garantiert den Menschen gesunde und unbelastete Lebensmittel. Die Ablehnung von Risikotechnologien wie der Grünen Gentechnik verwirklicht in konsequenter Weise das Vorsorge- und Verantwortungsprinzip. Durch weitgehende Kreislaufwirtschaft und Bindung der Tierhaltung an betriebseigene Flächen werden Ressourcen geschont und regionale soziale Gefüge und Gemeinschaften gestärkt.

Auch die Pflege der Kulturlandschaft besitzt im Ökolandbau einen hohen Stellenwert. Die industrialisierte Landwirtschaft hat durch Flurbereinigung, weitflächigen, monokulturellen Anbau und Tierfabriken zur Zerstörung von Naturräumen beigetragen. Im ökologischen Landbau kommt man der Kulturaufgabe, den ländlichen Raum funktionell, schön und sinnvoll zu gestalten, wieder nach. Eine nachhaltige Landbewirtschaftung, die ihrem vielfältigen Kulturauftrag nachkommt, erfüllt auch wesentliche Anforderungen für eine effektive Hungerbekämpfung. Denn sie verwirklicht Nachhaltigkeit, Autonomie, Regionalität, Gerechtigkeit und Vernetzung - allesamt wichtige Pfeiler für Ernährungssicherheit und Nahrungssouveränität. Im Übrigen sprechen die Zahlen für sich: Der Flächenanteil unter ökologischer Bewirtschaftung wächst konstant; in Deutschland wurde 2010 erstmals die Eine-Million-Hektar-Grenze überschritten. Ebenso zeigt der Umsatz innerhalb der Biobranche bereits seit vielen Jahren Wachstumsraten im zweistelligen Bereich.

Wenn die Landwirtschaft vor den eingangs genannten Herausforderungen bestehen will, müssen die vielfältigen, mehrdimensionalen Kulturleistungen der Landwirte wieder verstärkt aktiviert und wertgeschätzt werden. Kleine und mittlere Betriebe, die regional und nachhaltig produzieren und vermarkten, müssen wieder eine Chance erhalten, ihren bedeutenden Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Dazu muss der Kulturauftrag der Landwirtschaft wieder verstärkt ins Bewusstsein von Produzenten, Vermarktern und Konsumenten gleichermaßen rücken.

 
Von Franz-Theo Gottwald


Im Profil
Franz-Theo Gottwald ist Honorarprofessor für Agrar- und Umweltethik an der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der Humboldt Universität Berlin. Zudem ist er als Vorstand der Schweisfurth-Stiftung in München sowie als Lehrbeauftragter für Politische Ökologie an der Hochschule für Politik München tätig.

Quelle:
Umwelt | Ressourcen, 25.05.2011

     
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