Der Weg zur Wahrheit

Können Statistik, Analytics und Big Data dazu beitragen, zukünftig bessere Entscheidungen zu treffen?

Zweifel sind angesagt und mehr denn je ist der Entscheider gefragt.
 
Endlich scheinen Unternehmen zu begreifen, dass sie Statistik dringend benötigen, wenn sie wirtschaftlich nachhaltig erfolgreich sein möchten. Für mich als Statistikerin, die das seit über zehn Jahren behauptet, eigentlich ein Grund zum Feiern. Auch wenn ich mich besser „Data Scientist" nennen sollte, das klingt ja irgendwie fortschrittlicher. So wie alle Welt lieber von Big Data spricht, von Analytics, von Algorithmen und Data Mining. Egal. Big Data – an diesem Thema kommen Unternehmen nicht mehr vorbei.
 
Big Data: unser Wegweiser in die Zukunft. © hainichfoto, fotolia„Big Data verschafft einen Blick in die Zukunft." So beginnt Ferry Abolhassan, Geschäftsführer der T-Systems International, seinen aktuellen Beitrag im Big Data Blog. Big Data scheint den Traum, die Zukunft nicht nur prognostizieren, sondern tatsächlich vorhersehen zu können, endlich wahr werden zu lassen. Sind Hard- und Software nur leistungsfähig, die Datenmengen groß und die statistischen Methoden ausgefeilt genug, dann lassen sich Entscheidungen berechnen und die Unsicherheit besiegen. Davon träumt auch ein namhafter Industriekonzern, der seine Lagerhaltungskosten senken und nachgefragte Produkte mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Lager halten möchte. Dafür soll ein Forecasting-Tool entwickelt werden, das monatliche Prognosen für jeweils mehrere hundert Artikel pro Business Unit vollautomatisch erstellt. Mein Team diskutiert als Sparrings-Partner mit dem Kunden den Vorschlag, der von einer Beratungsgesellschaft präsentiert wird. Deren Software vergleicht bei jeder Prognose drei Dutzend Modelltypen. Außerdem sucht das Tool automatisch diejenige Datenmenge aus der Vergangenheit, mit der das Modell die beste Anpassung an die Nachfrage generiert. Damit sei der Konzern bereit für Big Data, sagen die Berater. Die Gesichter werden lang, als wir empfehlen, den Vorschlag abzulehnen, weil wir befürchten, dass der Zufall sie sonst zum Narren halten wird.
 
Der Zufall als Wegweiser
„Fooled by randomness" nennt Nassim Taleb, Börsenhändler und Bestseller-Autor, die menschliche Neigung, Zufallsprodukte als Erfolge zu deuten. Lässt man eine Million Affen auf Schreibmaschinen herumhämmern, wird irgendwann einer von ihnen Shakespeares Werke produzieren. Aber das macht den Affen nicht zum Schriftsteller. Wollen wir wirklich darauf wetten, dass dieser Affe als nächstes Goethes Faust verfasst? Wohl kaum. Doch wenn eine Million Händler an der Börse zocken und einer von ihnen irgendwann durch Zufall astronomische Renditen produziert, dann vertrauen wir ihm oft blindlings unser Vermögen an. Lassen wir eine Software eine beliebig große Zahl von Modellen an einem Datensatz berechnen, dann wird irgendeines davon rein durch Zufall perfekt passen. So funktioniert Data Mining. Aber es ist fast sicher, dass ein anderes Modell besser passt, sobald neue Daten hinzukommen. Wer glaubt, dass sich die Zukunft genau so fortsetzt wie die Vergangenheit, der verneint, dass irgendein Ereignis der Vergangenheit von Zufall beeinflusst ist. Statistik bedeutet, den Zufall von der Wahrheit zu trennen. Data Mining ohne Verstand bedeutet, dass wir den Zufall zur Wahrheit erklären. Wir sollten nicht gleich ein System vermuten, nur weil wir ein mathematisches Modell finden, das die Daten der Vergangenheit exakt nachbilden kann. Denn so ein Modell gibt es immer. Wir argumentieren deshalb, dass für das Forecasting-Tool nicht die Anpassung an die Vergangenheit, sondern die Prognose der noch unbekannten Zukunft entscheidend sein müsse. Der Kunde lässt sich überzeugen und wartet ab. Tatsächlich. Das scheinbar beste Modell versagt kläglich. Ein Schicksal, das dieses Beispiel aus der Industrie mit den jährlichen Konjunkturprognosen teilt.
 
Sind die Wirtschaftsweisen weise?
Eine grenzenlose Masse an Daten; ist das die Lösung unserer Probleme? © Nmedia, fotoliaFür das Jahr 2013 lag die Prognose der DZ-Bank am nächsten an der tatsächlichen Entwicklung. Das zeigte das Portal „WirtschaftsWunder" in einem Ranking. Nun ja, fast. Das Ranking zeigte vor allem eines: Fast alle 46 Prognostiker hatten Prognosen abgegeben zu Wirtschaftswachstum, Konsum, Export und Investitionen. Aber nur 30 Prozent davon lagen überhaupt in der Nähe der tatsächlichen Entwicklung. Selbst die guten Prognosen hatten den Rückgang des Wachstums falsch begründet, nämlich damit, dass die Deutschen weniger konsumieren würden. Tatsächlich brachen jedoch die Exporte stark ein. Zudem lag der strahlende Sieger, die DZ-Bank, für das Jahr 2013 zwar auf Platz 1, für das Jahr 2012 aber ganz hinten auf Platz 41. Dafür wurde der beste Prognostiker vom Vorjahr, die Landesbank Baden-Württemberg, diesmal nur Viertletzter. 2014 rutschten übrigens sowohl die DZ-Bank als auch die LBBW wieder auf die hintersten Rangplätze. Zwar argumentiert die „Süddeutsche Zeitung", aus den mittleren Platzierungen über die vergangenen 13 Jahre ließe sich dann doch ableiten, wer langfristig ein Händchen für Prognosen habe. Doch der Mittelwert sagt nichts aus über die Streuung: Wer wie das Ifo-Institut im Durchschnitt aller Jahre auf Rang 21 lag, kann abwechselnd erster und letzter gewesen sein – oder konstant im Mittelfeld. Die Lehre daraus: Man sollte dieses Ranking besser nicht benutzen, um eine Prognose für den besten Prognostiker 2014 abzugeben.
 
Statistik-Fehler sind Folgen typischer Denkmuster
Big Data, Data Mining und Analytics gelten als die moderne Form der guten alten Statistik. Viele Nicht-Statistiker verstehen darunter Entscheidungen auf Basis der Rationalität nackter Zahlen. Schließlich ist Mathematik neben der Philosophie die einzige Wissenschaft, die sich mit Wahrheiten beschäftigt. Schon in der Schule stand am Ende jeder Mathe-Aufgabe ein Wert, der dann richtig oder falsch war. Der Kopf weiß, dass es bei Statistik um Wahrscheinlichkeiten geht, aber der Bauch erwartet klare „mathematische" Aussagen. Als solche werden Statistiken dann aufgefasst. Wenn wir als Statistiker uns dagegen wehren, führt dies bei Laien oft zu einem Umschwung ins Gegenteil. An die Stelle des Glaubens an die Unbestechlichkeit der Zahlen treten die Überzeugungen, dass Statistiker zu keinen konkreten Aussagen fähig wären und der Instinkt dem ganzen Zahlenhokuspokus sowieso überlegen sei. Überzeugungen, die besonders dann reifen, wenn die Statistik partout nicht zum gewünschten Ergebnis kommen will. Und solche Missverständnisse richten leider oft nachhaltigen Schaden an. Denn Statistik, klug eingesetzt, hilft der produzierenden Industrie, Ressourcen besser auszuschöpfen, Abfälle und Emissionen zu reduzieren und damit effizienter zu wirtschaften. Sie dient weitsichtigen Politikern dazu, Steuermittel verantwortungsvoll einzusetzen, indem sie beispielsweise demografische Entwicklungen bei ihrer Schulbedarfsplanung berücksichtigen. Kurz gesagt: Wer nachhaltige Entscheidungen treffen will, kommt an der Statistik als Mittel zur systematischen Datenanalyse nicht vorbei.
 
Statistik und Management
Eine wesentliche Fähigkeit, die von Managern verlangt wird, ist eben genau die Entscheidungskompetenz. Aber was ist Entscheidungskompetenz? Es ist ganz sicher nicht die weit verbreitete Überzeugung, dass es genau eine richtige, gute und Erfolg versprechende Lösung gibt und mindestens eine falsche, schlechte, zum Scheitern verurteilte Alternative. Leider findet sich ein ähnlicher Denkfehler in den Medien: Es gibt etwas „Wahres" und die Wahrheit ist dauerhaft. Das einzige Problem ist die Realität mit ihrem „sowohl als auch" und ihrer Unsicherheit. Nach meiner Erfahrung entstehen Fehler im Verständnis von Statistik häufig dann, wenn Entscheidungen eigentlich schon feststehen und die Statistik einer Art „post-dezisionistischen Argumentation" dienen soll – sie rechtfertigt dann das, was man schon längst einfach so beschlossen hat; alles andere soll ausgeblendet werden. Das Traurige daran ist, dass viele inzwischen schon glauben, dass es „eh immer so läuft". Und wenn dann die Statistik zur getroffenen Entscheidung passt, unterstellen deren Gegner häufig, dass diese Statistik nur passend ausgesucht oder passend gemacht worden sei.
 
Auswege – Wie man das Denken von Statistikern und Managern zusammenbringt
Statistik ist weit mehr als der Versuch, aus möglichst vielen Zahlen einen möglichst passenden Erwartungswert zu errechnen. Mehr denn je kommt es auf die richtige Fragestellung und eine professionelle Interpretation der Ergebnisse an. © STAT-UPDas Institute for Operations Research and the Management Sciences (INFORMS) definiert Analytics als „the scientific process of transforming data into insight for making better decisions". C.R. Rao hat Jahrzehnte zuvor schon Statistik ein „Mittel zur Entscheidungsfindung bei Unsicherheit" genannt. Aus einem Missverständnis dieser Formulierungen resultiert der grundlegende Denkfehler, dass Entscheidungen mit Hilfe von Datenanalyse berechnet werden können. Aber ohne Unsicherheit braucht man keine Entscheidung. Und wenn es nichts zu entscheiden gibt, braucht man keine Entscheider. Big Data Analysen schaffen eine scheinbare Sicherheit. Statistische Analysen benutzen Algorithmen, mathematische Formeln und deren exakte Umsetzung in Programmcodes. Statistik ist aber mehr als eine Sammlung von Rezepten zum Kneten von Daten. Statistik ist eine ganz spezielle Art des Denkens. Ein guter Statistiker denkt nicht in „richtig" oder „falsch", in „null" oder „eins", in „sicher" oder „unsicher". Statistik, egal ob auf kleine oder unvorstellbar große Datenmengen angewandt, liefert im Grunde nur eine Information: Sie beantwortet die Frage, wie groß die restliche Unsicherheit ist, die man selbst mit der kompliziertesten Mathematik, den leistungsstärksten Computern und den cleversten Statistikern auf diesem Planeten nicht beseitigen kann. Oft gibt es in der Datenanalyse noch nicht einmal eine eindeutig richtige Methode, genauso wenig wie die Ergebnisse eindeutig sind. Der Statistiker selbst muss schon entscheiden, mit welchen Werkzeugen er die Daten analysieren will, noch bevor er die erste Berechnung durchführt. Sicherlich gibt es Faustregeln und „best practices", aber die gewählte Statistik hängt auch davon ab, was der Entscheider hinterher mit dem Ergebnis anfangen möchte. Mir ist bewusst: Das klingt zunächst, als seien dann doch alle Statistiken irgendwie gefälscht. Tatsächlich behaupte ich, ein guter Statistiker ist in erster Linie ein Kommunikationsprofi. Statistik komprimiert Informationen, so wie es unsere alltägliche Sprache auch tut. Wenn ich Ihnen beschreiben möchte, wie mein legendärer Schokoladenkuchen zubereitet wird, dann benutze ich genau die Worte, die für mein Empfinden die Prozedur am treffendsten zusammenfassen. Würden Sie exakt dieselben Worte wählen? Und würde die Beschreibung nicht davon abhängen, ob Sie das Rezept Ihrer leidenschaftlich backenden Mutter erklären oder Ihrer 14-jährigen Tochter?
 
Kompetenz im Umgang mit Unsicherheit
In der alltäglichen Kommunikation transportieren wir, Sie und ich, über Worte diejenigen Informationen, die uns am wichtigsten erscheinen, damit der Empfänger mit unserer Botschaft möglichst viel anfangen kann. In der Statistik tun wir nichts anderes. In beiden Fällen hängt jedoch die Botschaft vom Empfänger und unseren Informationen über seine Absichten ab. Daran ist nichts Falsches, so lange wir die Botschaft nicht wider besseres Wissen manipulieren. Wir Statistiker tun im Übrigen gut daran, mit solchen Ambivalenzen offen umzugehen und uns nicht den Anschein von allwissenden „Datenflüsterern" zu geben. Spätestens dann, wenn eine bessere statistische Methode für unser Datenproblem erfunden wird – und die Statistik ist eine sehr kreative und lebendige Wissenschaft, in der fast täglich neue Methoden erfunden werden –, müssen wir sonst zugeben, dass wir doch nicht unfehlbar waren. Tatsächlich heißt Big Data deshalb: Wir brauchen mehr Kompetenz im Umgang mit Unsicherheit, nicht weniger. Weil wir alle uns immer weniger darauf berufen können, dass wir nicht genug Informationen hatten. Big Data verschafft tatsächlich einen Blick in die Zukunft, und zwar genau auf den Punkt, an dem wir eingreifen und entscheiden müssen. Wir brauchen Entscheider, die den Mut haben, etwas zu entscheiden, auch wenn – oder besser: genau weil sie sich nicht ganz sicher sind. Sie fragen wie das gehen soll?
Hier ist mein ganz persönliches Rezept 
  • Akzeptieren Sie, dass Statistik nicht objektiv ist. Nicht nur die Daten, sondern auch der Zweck der Analyse bedingen die Methoden.
  • Kommunizieren Sie offen mit demjenigen, der Ihre Daten auswerten soll. Je genauer der Statistiker weiß, was erreicht werden soll und was Ihre Motive sind, umso punktgenauer und auch nachhaltig belastbarer (!) wird das Ergebnis ins Ziel treffen.
  • Misstrauen Sie jedem Analytiker, der behauptet, er hätte die einzig wahre Lösung.
  • Trauen Sie sich! Vertreten Sie entschlossen den Standpunkt, dass wir nicht alles wissen können und dass wir durch unser Handeln selbst die Zukunft beeinflussen können.
  • Benutzen Sie Statistik nicht wie der Betrunkene den Laternenpfahl, sondern wie der Nüchterne. Sie müssen sich nicht festhalten, sondern Sie suchen im Licht der Algorithmen den Punkt, an dem Ihre Entscheidung gefragt ist. Den Punkt, an dem die Unsicherheit beginnt.
Katharina Schüller
ist Diplom-Statistikerin, Statistik-Expertin bei DRadio Wissen und ausgezeichnet als „Statistikerin der Woche" durch die American Statistical Association. Über ihre Vorträge und Publikationen zum richtigen (und falschen) Gebrauch von Statistik sowie Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen erreicht sie ein breites Publikum.

Technik | Green IT, 01.04.2015
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2015 - Nachhaltige Mode erschienen.
     
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