Chance Süd-Ost Europa
Neuanfang im Kosovo
Nachhaltigkeit ist im Zeitalter des Klimawandels nicht nur ein Gebot der Stunde sondern eröffnet auch zahlreiche Geschäftsmöglichkeiten. Gerade in den aufstrebenden Ländern Süd-Ost Europas.
Die Halle ist durchströmt vom Duft der Minze. Halit öffnet einen Container und ich werde fast betäubt vom strengen Geruch des Thymians. Eine Tür weiter tauche ich in Kamille ein. Ich bin in den westlichen Bergen des Kosovo – in einem Vorzeigebetrieb für das Sammeln und Trocknen von Wildkräutern und Beeren.
Bis Mitte der 1990er Jahre hat Halit Avdijaj als Bauarbeiter in der Schweiz gearbeitet. Er hatte ein gutes Auskommen und wäre gern da geblieben. Aber er und seine Frau wollten, dass die 5 Kinder in ihrer Heimat, in ihrer ureigenen Kultur zur Schule gehen. Die Familie ging zurück in den Kosovo und siedelte sich in Istog an. "Manchmal habe ich Zweifel, ob es gut war", sagt Halit. "Ich habe meine Familie mitten in den Krieg geführt." Halit begann sich im humanitären Bereich zu engagieren. Als der Krieg endlich vorbei war, wollte er für möglichst viele Menschen eine wirtschaftliche Grundlage schaffen. Aber womit?
Wer die phänomenalen Naturlandschaften in den Bergen des westlichen Kosovo kennengelernt hat, wundert sich nicht, worin Halit die Lösung fand: Kräuter, Blüten und Beeren. Heute betreibt die Firma Agroproduct 46 Sammel- und Trocknungsstationen im ganzen Kosovo mit 1.200 registrierten Sammlern. Zusammen mit deren Familien stehen damit 3.500 Menschen in Lohn und Brot. Das Jahreseinkommen eines Sammlers liegt bei bis zu 3.000 Euro - nicht schlecht, wenn der Durchschnittslohn im ganzen Land gerade mal bei 300 Euro liegt.
Beim Gang durch die Hallen, vorbei an den haushohen Stapeln von Säcken mit getrockneten Naturprodukten, berichtet Halit von beeindruckenden Zahlen. So werden pro Jahr ca. 18.000 Arbeitstage auf das Sammeln von Schlüsselblumen verwendet. Das Ergebnis: ca. 25 Tonnen getrocknete Blüten und Blätter, die später einmal zu Sinupret und vergleichbaren Medikamenten verarbeitet werden. Im gesamten Unternehmen werden pro Jahr ca. 600 Tonnen getrocknete Pflanzen abgesetzt. 75 verschiedene Produkte liefert Agroproduct an die Hersteller von Lebensmitteln, Kosmetik und Pharmazeutika. Bedeutende Kunden sind Weleda, Bionorica und Sonnentor in Österreich, die sogar teilweise Vorkasse leisten und damit diese nachhaltige Erzeugung hochwertiger Produkte im Kosovo unterstützen.
Wichtig sind Halit langfristige und ehrliche Geschäftsbeziehungen. Sowohl mit seinen Sammlern und Lieferanten als auch mit den Abnehmern macht er 5-Jahresverträge mit Mengen- und Preisgarantie. Seine Lieferanten motiviert er, eigene Sammelstationen mit Trocknungsanlagen aufzubauen. Ein Trocknungscontainer kostet immerhin ca. 25.000 Euro. Dafür erhalten sie von Agroproduct langfristige, zinslose Darlehen. Geld müssen sie aber nicht zurückzahlen: sie zahlen den Kredit ausschließlich mit Warenlieferungen ab.
Neben Kräutern werden Wurzeln und Beeren verarbeitet. Alles in höchster Qualität und öko-zertifiziert von AlbInspect in Albanien. Dafür werden die gesammelten Pflanzen direkt vor Ort akribisch in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt und je nach Art der Inhaltsstoffe und ihrer Bestimmung schonend getrocknet. Die Teile einer Kamillenpflanze finden sich dann in 4 verschiedenen Säcken: Blütenköpfe für Tees, Blätter für ätherische Öle, Pollen für die Medizin und die weißen Blütenblätter für feine Salben. Jede Marge rückverfolgbar bis zum Fundort und zum Sammler.
Damit die Sammlerinnen und Sammler auch alles richtig machen, werden sie regelmäßig geschult. Alle erhalten ein handliches Heft, anhand dessen sie entscheiden können, welche Pflanzen man sammeln kann - und vor allem welche giftig oder geschützt sind. Als Grundlage dafür arbeitet Agroproduct mit Prof. Milaku Fadil von der Hasan Universität in Pristina zusammen. Der hat ein komplettes Inventar aller wildwachsenden Lebensmittel und Heilpflanzen für den Kosovo erstellt. Und dabei auch höchst seltene Arten entdeckt. Noch während unseres gemeinsamen Abendessens ruft Halit an: "Prof, wie heißt diese einzigartige Tulpe in den Bergen?". Ganz einfach: es ist tulipa kosovarika, eine Verwandte von tulipa albanica und tulipa luanica, der "Löwentulpe". Alle drei stehen natürlich im "roten Buch" und dürfen nicht gesammelt werden.
Auf keinen Fall soll durch die Sammlung die Natur geschädigt werden. So werden bei den meisten Pflanzen keine Wurzeln gesammelt - obwohl die sehr wertvolle Inhaltsstoffe hätten. Es ist auch Gegenstand der öko-Kontrollen, dass pro Fläche nicht mehr gesammelt wird, als es die Natur verträgt. Dafür wird die Vorgabe "im Kataster des Professors" regelmäßig mit dem Herkunftsnachweis und den gewogenen Ergebnissen der Sammlung verglichen. Wegen der hohen Nachfrage hat Agroproduct begonnen, Malven zusätzlich zur Wildsammlung auch in Plantagen anzubauen. Aus ökologischen Gründen und weil möglichst viele etwas davon haben sollen, ist die Fläche der 300 beteiligten Bauern auf jeweils 1.000 m2 beschränkt. Auch andere Pflanzen werden inzwischen von den vertraglich gebundenen Bauern kultiviert. Dafür werden Halit’s Partner mit Setzlingen versorgt, die seine Firma selber züchtet. Aber die Produkte aus der Wildsammlung und aus dem Anbau auf den Feldern werden streng getrennt erfasst. Aus ureigenem Interesse: die Inhaltsstoffe der wildwachsenden Pflanzen sind ungleich stärker und wertvoller!
Aber zurück in die Hallen. Wozu werden diese Massen von Kirsch- und Pflaumenkernen gebraucht? Halit klärt auf: "Damit heizen wir die Trocknungsanlagen. Die Kerne haben eine höhere Energiedichte als die Holzpellets, die wir natürlich auch verwenden. Aber nur, wenn wir nicht genug Kernen haben." Also auch die Heizung ökologisch: Holz aus den Wäldern, Kerne aus den Abfällen der Slivowic-Produktion. Alle Heizungsanlagen sowie die Trocknungskammern sind automatisch geregelt, um keine Energie zu verschwenden und auf keinen Fall durch zu hohe Hitze die wertvollen Inhaltsstoffe zu zerstören.
Warum hat sich Halit mit aller Kraft diesem Vorhaben und der Firma gewidmet? "Durch diesen Beruf habe ich das Gefühl, ich helfe vielen Menschen im ländlichen Teil des Kosovo. Sie verdienen durch das Sammeln der heimischen Schätze Geld und können ihre Familien ernähren." Und wie geht's weiter? Halit's ältester Sohn studiert Bodenkultur in Pristina und wird den Betrieb übernehmen. Sein jüngster studiert Pharmazie und will mithelfen, dass es bald noch mehr Nachfrage nach den natürlichen Heilstoffen aus den kosovarischen Bergen gibt. „Bis dahin bin ich froh um jeden Hinweis auf einen Kunden in Deutschland und der Schweiz, mit dem ich ein ehrliches Geschäft machen kann", sagt Halit.
Möglich gemacht haben das alles - neben dem Fleiß und dem Knowhow von Halit und seinen Leuten - vor allem die Fördermittel von Swiss Intercooperation, USAID und die Beratung und technische Unterstützung von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Um die Zusammenarbeit mit nachhaltigen Unternehmen in Deutschland zu stärken, wird Agroproduct nun Mitglied beim B.A.U.M. e.V.. Entsprechend stolz ist auch Mustafa Kastrati, Projektleiter bei der GIZ in Pristina. "Das ist ein sehr gutes Beispiel, wie man mit Mitteln der internationalen Zusammenarbeit wirksam die Strukturen und die regionalwirtschaftliche Entwicklung verbessern kann. Und auch noch die Zusammenarbeit von Unternehmen über Grenzen hinweg."
Mustafa und Halit sind über die vielen Jahre der engen Zusammenarbeit Freunde geworden. Und man trifft sich gern bei Ismail im "Trofta". Der hat eine vergleichbare Erfolgsgeschichte wie Halit - mit einer großen Forellenzucht, einem hochwertigen Restaurant und tollen Appartements. Aber das ist eine andere Geschichte ...
Ludwig Karg, Geschäftsführer von B.A.U.M. Consult München / Berlin, hat mit seinem Team viele Regionen in Deutschland beraten und hilft nun im Auftrag der GIZ den Regionen Anamorava und Anadrini im Kosovo beim Aufbau regionaler Produktions-und Vermarktungsstrukturen für hochwertige Lebensmittel.
Weitere Informationen: www.agroproduct-shpk.com
Wirtschaft | Lieferkette & Produktion, 13.10.2016
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