Die unsichtbare Schwingung der Führung
Leadership und Kultur
Ein Konzert der Berliner Philharmoniker und des Pianisten Krill Gerstein erinnerten mich daran, dass ich meine ersten Erkenntnisse zum Thema Führung der klassischen Musik zu verdanken habe. Und auch heute zeigen Dirigenten den Weg.
Eine meiner ersten LPs (für diejenigen, die zu jung sind, sich daran zu erinnern: Langspielplatten waren die Musikträger im letzten Jahrhundert…) war Tschaikowskis 6. Sinfonie, gespielt von den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Herbert von Karajan. Nette Musik, dachte ich mir.
Ein, zwei Jahre später spielte mir ein Freund ein mitreißendes, leidenschaftliches Musikstück vor. Ich war völlig begeistert! Als ich ihn fragte, was es sei, war die überraschende Antwort: Tschaikowskis 6. Sinfonie.
Führungskräfte geben den Ton an und sind deshalb maßgeblich für die Firmenkultur verantwortlich.
Wie konnte das sein? Hatte ich doch dieses Stück des öfteren in Karajans Version gehört, ohne dass es diesen Effekt gehabt hätte. Was ging hier vor? Es war das gleiche Musikstück, ein Orchester ähnlicher Qualität, doch während es in einer Version gefällig und nett war, war es in der anderen aufwühlend, inspirierend und emotional. In diesem Moment verstand ich die Bedeutung von Führung, die Rolle eines Leaders, und was für einen Unterschied er oder sie machen kann. (Falls Sie sich fragen, wer der Dirigent im zweiten Szenario war: Es war Sir Georg Solti). Seitdem bin ich der festen Überzeugung, dass es die Führungskräfte sind, die im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angeben und maßgeblich für Firmenkultur verantwortlich sind. Dies gilt für die Führungskräfte an der Firmenspitze ebenso wie auf anderen Ebenen auch, sei dies eine Abteilung oder ein Team.
Gute Führung hat sich verändert
Es ist noch nicht lange her, seit sich meine Sichtweise zum Thema Führung erneut verändert hat. Ich glaube zwar nach wie vor, dass Führungskräfte eine kritische Rolle spielen, doch was gute Führung ausmacht, hat sich geändert. In der Vergangenheit hätte ich die Definition des „Was ist zu tun" und „Wie muss es getan werden" als kritische Führungsaufgabe hervorgehoben. Heute geht es aus meiner Sicht in erster Linie nur noch darum, eine grobe Richtung vorzugeben und dann zu inspirieren. Zusätzlich gilt es, den Mitarbeitern das Instrumentarium zu verschaffen, um die gegebene Vision umsetzen zu können, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen und ansonsten nicht im Wege zu stehen.
Interessanterweise waren es wieder die Berliner Philharmoniker, die diesen Gedanken in mir geprägt haben. Dieses Mal war es durch ihren Film „Reise nach Asien: Die Suche nach Harmonie". In dieser Reportage einer Asien-Tour gibt es eine Szene, in der Dirigent Sir Simon Rattle während einer Probe sein Podium verlässt und sich in den Zuschauerraum setzt; von dort beobachtet er, wie die Musiker auch ohne seine Anleitung weiterspielen, perfekt zusammen, schön und ausdrucksstark. Offenbar hatte jeder der Musiker ein so tiefes Bewusstsein und Verständnis für das Musikstück, war hoch qualifiziert und gleichzeitig im Einklang mit seinen / ihren Kollegen, dass der Dirigent nicht mehr gebraucht wurde. Da jede und jeder die Bereitschaft hatte, Verantwortung für ihre eigene und die kollektive Handlung zu übernehmen, war der Führer in der Lage, auf Distanz zu gehen.
Das Militär hat längst gelernt, dass Command & Control in einer hochkomplexen und vernetzten Welt nicht mehr funktioniert.
Warum ist diese Veränderung für mich so wichtig? Warum diese neue, „transponierte" Perspektive auf Führung? Schlicht und einfach: In der unsicheren, komplexen und dynamischen Welt des 21. Jahrhunderts können wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass Führungskräfte alle Entscheidungen für uns treffen und uns sagen, was zu tun ist. Wir können nicht jegliche Verantwortung an „den Führer" delegieren und unsere Untätigkeit damit entschuldigen, dass uns nicht gesagt wurde, was wir tun sollen. Der Kontext des 21. Jahrhundert ist zu schnelllebig und zu komplex für eine solche Haltung.
Das Militär reagiert
Das Militär hat längst gelernt, dass Command & Control in einer hochkomplexen und vernetzten Welt, in der „geordnete Schlachten" von Guerilla und Terrorkriegen ersetzt wurden, nicht mehr funktionieren. Entscheidende Aspekte sind also nicht mehr Hierarchie, Disziplin und Gehorsam, sondern Verantwortung und eigenständiges Handeln.
Geschicktes Storytelling im Kontext der Nachhaltigkeit wirkt inspirierend und ermuntert zum eigenständigen Handeln.
Daher ist heute die Herausforderung für Führungskräfte nicht mehr, vorzugeben, welcher „Best Practise" ihre Mitarbeiter folgen sollten, sondern dafür zu sorgen, dass sie über angemessene und adäquate Fähigkeiten und Denkweisen verfügen. Sie müssen Raum schaffen um „Leading Practice" zu entwickeln, denn nur dann sind Mitarbeiter jederzeit in der Lage, selbst die bestmöglichen Entscheidungen treffen zu können.
Die deutsche Wirtschaft hat ein Führungsproblem In einer Untersuchung des Gallup Instituts im Sommer 2016 wurde das Engagement von Mitarbeitern in Deutschland gemessen. Die Ergebnisse sind erschreckend: Nur 16 Prozent der Mitarbeiter sind wirklich engagiert und emotional mit ihrem Job verbunden. 68 Prozent sind unmotiviert und stecken wenig Energie und Begeisterung in ihre Arbeit. 16 Prozent sind sogar mehr oder weniger bereit, ihrer Firma Schaden zuzufügen. Das Problem des mangelnden Mitarbeiterengagements liegt, der Studie zu Folge, an den deutschen Führungskräften und 48 Prozent der demotivierten Mitarbeiter sehen in ihren Vorgesetzten einen Grund, das Unternehmen zu verlassen. Die Untersuchung kommt zu dem Schluss: Deutschland hat ein Problem mit seinen Führungskräften und braucht eine neue Haltung für ein zukunftsfähiges Management. www.gallup.com |
Ist diese Art von Führung heute schon Realität? In Anbetracht der jüngsten Studien zum Thema „Employee Engagement" glaube ich dies kaum. Der jährlich durchgeführte Gallup Engagement Survey zeigt, dass nur 16 Prozent der Mitarbeiter in Deutschland engagiert sind. Denn für wahres Engagement braucht es zwei Dinge: Emotion, das heißt stolz darauf zu sein (oder nicht), für ein Unternehmen zu arbeiten, und Sinn, das heißt zu verstehen (oder nicht), wie der eigene Einsatz zum Erreichen des Unternehmensziels beiträgt. Ohne Ersteres fehlt es an der Bereitschaft, ohne Letzteres an der Motivation, einen eigenständigen, verantwortlichen Beitrag für das Unternehmen oder Projekt zu leisten. Doch wie stellt man sicher, dass Mitarbeiter emotional engagiert sind und wissen, wo es langgeht und aus welchem Grund?
Storytelling und Nachhaltigkeit können motivieren
Eine Möglichkeit, Mitarbeiter zu engagieren und zu begeistern, ist sicherlich, indem man Geschichten erzählt und Zusammenhänge schildert, anstatt Memos zu versenden. Besonders der Kontext der Nachhaltigkeit wirkt durch geschicktes Storytelling inspirierend und ermuntert zum eigenständigen Handeln. Sollten Sie daran interessiert sein, mehr über einen angemessenen Führungsstil für das 21. Jahrhundert zu erfahren, kann ich zwei Bücher empfehlen: Das erste ist „Complex Adaptive Leadership" von Nick Obolensky und das zweite ist „The Art of Leading Collectively – Co-Creating a Sustainable, Socially Just Future" von Petra Künkel. Lassen Sie mich mit einem meiner Lieblingszitate zum Thema Leadership von Professor Rob Goffee von der London Business School schließen: „Führung bedeutet, andere zu einem höheren Leistungsniveau zu inspirieren."
Dr. Bettina von Stamm ist eine Vordenkerin an der Grenze von Akademie und Wirtschaft. Drei Kernelemente ihres Denkens sind: den Menschen in den Mittelpunkt stellen, das spezifische Umfeld berücksichtigen, einen ganzheitlichen Ansatz wählen.
Inhalt |
Wirtschaft | Führung & Personal, 01.02.2017
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2017 - And the winner is... erschienen.
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