Wir sind eine Menschheit!
Ein Appell von Michail Gorbatschow
Wohin geht die Entwicklung der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts? Warum ist die heutige Welt unruhig, ungerecht, militarisiert?
Man hätte denken können, das Ende der globalen Konfrontation und die noch nicht dagewesenen Möglichkeiten, die die neuen Technologien eröffnen, hätten der Welt neuen Auftrieb geben und das Leben jedes Einzelnen besser machen müssen. Doch es kam anders. Eine einfache Erklärung dafür gibt es nicht. Die Politik erwies sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen.
Diejenigen, die den »Sieg des Westens im Kalten Krieg« erklärten und sich weigerten, ein neues, gleichberechtigtes Sicherheitssystem aufzubauen, tragen einen großen Teil der Verantwortung für die heutige Lage. Siegesrausch ist ein schlechter Ratgeber! Und in internationalen Angelegenheiten erst recht. Aber es liegt nicht nur daran. Man hat es bislang nicht geschafft, die neue globalisierte Welt zu verstehen, man hat sich mit ihr noch gar nicht richtig auseinandergesetzt. Dabei erfordert sie neue Verhaltensregeln und eine andere Moral. Doch die führenden Politiker kommen vor lauter Tagesgeschäft einfach nicht dazu, sich damit zu beschäftigen.
Ich glaube, hier liegt die Hauptursache der globalen „Wirren", die wir heute erleben. Die Menschen sind besorgt wegen der Spannungen in der Welt. Doch nicht weniger besorgt sind sie um ihre eigene Lage und Perspektive. Denn das eine hängt mit dem anderen unmittelbar zusammen. Selbst in den hoch entwickelten Industrienationen zeigt sich die Mittelklasse, der Motor jeder erfolgreichen gesellschaftlichen Entwicklung, mit ihrem Leben unzufrieden. Immer häufiger unterstützen Wähler Populisten, die auf den ersten Blick einfache, in Wirklichkeit jedoch gefährliche Lösungen bieten. Die Urheber undurchsichtiger Finanzstrukturen hingegen, die niemandem Rechenschaft ablegen müssen, haben sich sehr rasch an die Globalisierung angepasst und profitieren davon. Sie erzeugen eine Blase nach der anderen und machen Milliarden – buchstäblich aus Luft! Diese Milliarden stehen dann einem immer enger werdenden Kreis an Personen zur Verfügung, die sich deren Versteuerung entziehen. In jüngster Zeit wurden wir Zeugen neuer Enthüllungen, die das belegen. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs …
Abgesehen davon haben sich die organisierte Kriminalität, Drogen- und Waffenhändler, Schleuserbanden, die aus den Migrantenströmen Kapital schlagen, Cyber-Kriminelle und vor allem Terroristen in der globalisierten Welt längst eingerichtet. Sie fühlen sich darin wohl und sicher. Auf keine dieser Herausforderungen hat die Weltpolitik eine wirksame Antwort geliefert.
Inzwischen ist eine neue Runde des Wettrüstens gestartet worden, die Umweltkrise verschärft sich, die Kluft zwischen den reichen und armen Ländern wird immer größer und die Schere zwischen Arm und Reich innerhalb der Staaten öffnet sich immer weiter. Das sind Probleme, die ganz oben auf der Weltagenda stehen sollen und müssen. Doch sie werden nicht gelöst. Sackgassen überall, wohin man auch schaut. ..
Fest steht: Wir haben es mit einer Krise politischer Führung zu tun. International wie auch national.
Der mögliche Einsatz von Massenvernichtungswaffen erscheint internationalen Top-Managern als größter Unsicherheitsfaktor der Gegenwart. So zeigen es Umfragen des World Economic Forum (WEF), zusammengefasst im Global Risk Report 2017.
Die Politiker sind voll und ganz mit „Löscharbeiten" beschäftigt, mit dem Tagesgeschäft, mit den aktuellen Krisen und Konflikten. Ohne den globalen Kontext ist es nicht möglich, die Ursachen und Folgen der heutigen Konflikte nachzuvollziehen und zu begreifen. Es ist nicht möglich, eine neue Agenda auszuarbeiten sowie Mittel und Wege zur Lösung von Problemen zu finden, die heute und unvermeidlich auch in Zukunft in der Welt entstehen. Dabei kommt es darauf an, die richtigen Prioritäten zu setzen …
Unter diesen Problemen gibt es nichts Wichtigeres als die Befreiung der Menschheit von den Massenvernichtungswaffen.
Dank der in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre erreichten Einigung sind bis zum heutigen Tag über 80 Prozent der damaligen Atomwaffenbestände vernichtet worden. Das ist ein enormer Fortschritt, dennoch reicht er nicht aus. Solange es Atomwaffen gibt, bleibt die Gefahr bestehen, dass sie zum Einsatz kommen. Sei es durch Zufall, eine technische Störung oder auch einen bösen menschlichen Willen. Deshalb müssen wir das Ziel, die Atomwaffen zu verbieten und zu vernichten, mit Nachdruck weiterverfolgen. Das ist unsere Pflicht. Ich werde nicht müde zu wiederholen: Dieses Ziel kann nur unter der Bedingung einer demilitarisierten Politik und demilitarisierter internationaler Beziehungen erreicht werden. Politiker, die meinen, Probleme und Streitigkeiten könnten durch Anwendung militärischer Gewalt gelöst werden – und sei es auch nur als letztes Mittel – sollten von der Gesellschaft abgelehnt werden, sie sollten die politische Bühne räumen. Gewaltfreiheit in den internationalen Beziehungen und friedliche Konfliktlösung müssen im Regelwerk des Völkerrechts zu Kernpunkten werden. Ein weiterer Imperativ unserer globalisierten Welt lautet: Politik und Ethik müssen vereint werden. Das ist ein großes und schwieriges Problem. Es lässt sich nicht auf einen Schlag, von heute auf morgen lösen. Doch wird es nicht schon heute aufgegriffen und auf die Tagesordnung gesetzt, wird nicht hartnäckig und konsequent auf seine Lösung hingearbeitet, ist die Welt dazu verurteilt, mit immer neuen Konflikten und unlösbaren Auseinandersetzungen konfrontiert zu werden. Besonders gefährlich in der globalisierten Welt ist die Existenz „doppelter Standards". Es gilt, jede Möglichkeit auszuschließen, dass Staaten – angeblich aus eigenem nationalem Interesse – terroristische und extremistische Gruppierungen sowie Bewegungen aller Art unterstützen, die für einen bewaffneten Kampf und den gewaltsamen Sturz rechtmäßiger Regierungen eintreten. In der heutigen Zeit ist ein Höchstmaß an Verantwortung erforderlich.
Meinen Appell zum Handeln richte ich nicht nur an die Staatsführungen, sondern auch an die Zivilgesellschaft. Bei der Beendigung des Kalten Krieges hat die Öffentlichkeit eine enorme Rolle gespielt. Ich erinnere mich gut an die lautstarke Stimme der Friedensbewegung gegen Krieg und Atomwaffen in den 1980er-Jahren. Diese Stimme wurde gehört!
Heute appelliere ich an alle Menschen, die nicht nur an sich denken und denen die Zukunft ihrer Kinder und Enkel nicht gleichgültig ist, ihre Bemühungen zu vereinen, um die Welt vor Kriegsleid, vor der Bedrohung einer Umweltkatastrophe, vor Armut und Rückständigkeit zu bewahren. Das Ziel, eine sicherere, gerechtere und stabilere Weltordnung aufzubauen, ist realistisch, und es lohnt sich, dafür alles zu tun, was in unserer Macht steht. Lassen Sie uns nicht vergessen: Wir leben alle auf EINEM Planeten! Wir sind EINE Menschheit!
Michail Gorbatschow
Gesellschaft | Politik, 01.02.2017
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