Der Konsum von Geflügelfleisch und Eiern steigt unaufhaltsam. Jeder Deutsche verzehrt jedes Jahr mehr als 240 Eier – insgesamt 19 Milliarden. Dahinter stehen oft unvorstellbare Lebensbedingungen für die Tiere. Und eine Legehennen-Zucht, bei der die männlichen Küken systematisch getötet werden. Es ist Zeit, Alternativen zu schaffen. Erste Erfolge machen Mut.
Das Hühnerleben auf dem Hofgut Brachenreuthe am Bodensee ist schön: Von April bis Oktober bringt Hühnerbauer Thomas Müller die Tiere in mobilen Ställen aufs Grünland. Neben Futtermitteln aus Bio-Anbau können sie dort reichlich Gras von der Wiese picken. Alle ein bis zwei Wochen wird jeder Stall umgesetzt, damit ihnen das frische Grün nicht ausgeht. Die Hühner genießen die große Bewegungsfreiheit, Thomas Müller freut sich über ihre Vitalität und seine Kunden schätzen den cremig-sahnigen Geschmack der dunkelgelben Eidotter, der dem vielfältigen Nahrungsangebot zu verdanken ist. „Unsere Art der Haltung und Fütterung erhöht die Kosten, aber die Kunden sind durchaus bereit, einen höheren Preis zu zahlen, weil sie die besondere Qualität schmecken können", sagt Müller. Während seine Legehennen mit dem Hühnermobil auf Tour sind, dürfen sich ihre Brüder im Partnerbetrieb satt essen, bis sie ausgewachsen sind und irgendwann im Kochtopf landen.
Zucht und Produktion am Fließband
Von solchen Lebensbedingungen können die meisten Artgenossinnen nur träumen. Mehrere zehntausend Tiere sind zusammen im Stall oder Käfigen eingepfercht, von grüner Wiese weit und breit keine Spur: In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in der Geflügelwirtschaft industrialisierte Produktionsweisen und monopolartige Zuchtstrukturen entwickelt. Die Geflügelrassen, die Landwirte unter wirtschaftlichen Bedingungen zur Eier- oder Fleischproduktion einsetzen können, sind in den Händen weniger global agierender Konzerne. Dabei hat sich die Zucht auf zwei Richtungen verengt: Auf der einen Seite Masttier-Rassen mit reichlich Fleisch an Brust und Keule, die kaum mehr Eier legen. Auf der anderen Seite Legehennen-Rassen, die ganz auf die Eierproduktion spezialisiert sind und fast kein Fleisch mehr ansetzen. Die Brudertiere dieser Hochleistungs-Legehennen bleiben dabei auf der Strecke. Da sie selbst bei guter Fütterung viel magerer bleiben als die Masttierrassen, werden die männlichen Küken oft direkt nach dem Schlüpfen getötet – eine weit verbreitete Praxis, die nicht nur Tierschützer auf die Barrikaden treibt. Um das tödliche Schreddern zukünftig zu verhindern, plant man die Vorselektion zukünftig schon im Ei vorzunehmen, was bleibt ist die massenhafte Tötung kurz vor oder nach dem Schlüpfen.
Bruderhähne aufziehen statt Küken töten
Wer ist schuld, Henne oder Ei? Ob industrialisierte Zuchtstrukturen den Eier- und Fleischkonsum zu Niedrigpreisen anheizen, oder ob die große Eier- und Fleischnachfrage die Massenproduktion anregt – eines ist klar: es besteht dringender Handlungsbedarf. So ist eine Reihe von Initiativen aktiv geworden, um auf die inakzeptable Praxis des Küken-Tötens aufmerksam zu machen und Alternativen zu entwickeln. In Betrieben die sich an der Bruderhahn Initiative Deutschland (BID) beteiligen, werden alle Brudertiere der Legehennen aufgezogen. Da aufgrund der schlechteren Masttauglichkeit die Aufzucht der Legehennen-Brüder kaum kostendeckend möglich ist, wird für jedes BID-Ei im Laden ein Zuschlag von 4 Cent verlangt. Diese 4 Cent werden zu 100 Prozent für die Aufzucht der Brudertiere und deren Vermarktung verwendet – eine einfache Lösung, die im Naturkosthandel und bei Verbrauchern gut ankommt. „Der größte Teil der von uns gehandelten Eier kommt mittlerweile aus Demeter-Betrieben, die Mitwirkende der Bruderhahn-Initiative sind", sagt Sascha Damaschun, Geschäftsführer des Naturkostgroßhandels BODAN, der Bioläden in ganz Süddeutschland beliefert. „Die Erfahrungen der Bruderhahn-Initiative zeigen aber auch, dass die Vermarktung der relativ fleischarmen Legehennen-Brüder ohne Zuschuss kaum kostendeckend möglich ist", sagt Damaschun. Eine dauerhaft tragfähige Lösung könne demnach nur die Zucht eines Zweinutzenhuhns bringen, das sowohl für die Eier- als auch für die Fleischproduktion geeignet sei.
Eine Bio-Initiative weist den Weg
Genau diesem Ziel hat sich Inga Günther verschrieben. Auf dem Hofgut Rengoldshausen, einem der ältesten Demeter-Betriebe Deutschlands, hat sie in den vergangenen sechs Jahren mit viel Herzblut Zuchtarbeit geleistet, die ökologischen Ansprüchen gerecht wird. „Bio-Landwirte wollen selbstbestimmt handeln. Aber sie stehen in einer unmittelbaren Abhängigkeit von Strukturen, die mit der Idee der ökologischen Landwirtschaft nichts zu tun haben. In der Hühnerhaltung ist diese Abhängigkeit besonders stark. Es gibt weltweit nur drei Unternehmen, die die Züchtung von Hühnern in der Hand haben", sagt die 30-jährige Züchterin. Um die Landwirte aus dieser Abhängigkeit zu befreien, haben die Bio-Verbände Demeter und Bioland im Mai 2015 die Ökologische Tierzucht gGmbH (ÖTZ) gegründet, mit Inga Günther als Geschäftsführerin. „Mit der ÖTZ kümmern wir uns darum, dass nicht nur die Eier, sondern über die Züchtung auch die Hühner von Anfang an ökologisch sind", sagt Günther. Die Hühnerzucht soll dabei nur der Anfang sein. Langfristig will die ÖTZ für die Nutztierzucht insgesamt Strukturen entwickeln, die den Ansprüchen der ökologischen Landwirtschaft gerecht werden.
Zucht-Ziel Zweinutzenhuhn
„Wir wollen ein Huhn züchten, das besonders gut zu einem ökologischen Betrieb passt", erklärt Inga Günther. „Es sollte gut mit Hülsenfrüchten und Getreiden umgehen können, die auf den Bio-Höfen oder in deren Region angebaut werden, es sollte sich gut im Freiland bewegen können, gerne draußen sein und Gras fressen, widerstandsfähig gegen Krankheiten sein und es sollte ein Tier sein, das beides kann: Eier legen und Fleisch liefern". Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen der konventionellen und der ökologischen Züchtung besteht in der Haltung der Zuchttiere. „Unsere Hühner werden nicht wie üblich in Käfige gesperrt, sie laufen wie jedes andere Öko-Huhn auch in einer Gruppe", so die ÖTZ-Geschäftsführerin. Freilich werden die Zweinutzenhennen beim angestrebten Zuchtziel weniger Eier legen, als die heutigen Hochleistungs-Legehennen, die bis zu 320 Exemplare schaffen. Etwa 240 Eier im Jahr hält Inga Günther hier für eine realistische Größenordnung. Dafür werden ihre Bruderhähne als Masttiere einsetzbar, Fleisch und Eier somit unter wirtschaftlichen Bedingungen in Kombination produzierbar sein. Dieses Modell kann natürlich nur funktionieren, wenn die Kunden im Laden auch die Hähnchen aus der ökologischen Zucht nachfragen und wenn sie höhere Preise akzeptieren. Mindestens 60 bis 70 Cent für ein Ei – das ist eine realistische Größenordnung, wenn es von einem ökologisch gezüchteten Zweinutzenhuhn gelegt sein soll.
Zeitintensive Zuchtarbeit
Auf dem Weg zum Öko-Huhn der Zukunft arbeitet Inga Günther mit anderen Züchtern zusammen. Am Hauptstandort nahe der holländischen Grenze werden die Tiere in Richtung Zweinutzenhuhn selektiert, in einigen weiteren Betrieben in ganz Deutschland in der Praxis getestet und weiterentwickelt. Jährlich finden wissenschaftlich begleitete Versuche statt, um handfeste Daten zu erheben. Zeit- und personalintensiv ist die Dokumentation der Zuchterfolge in jeder neuen Hühner-Generation. So müssen die Tiere unter anderem regelmäßig gewogen, die Eier pro Huhn gezählt und bewertet werden. Dieses Monitoring ist bei freilaufenden Hühnern deutlich zeitaufwändiger und damit teurer als bei der Käfighaltung, wie sie in der konventionellen Zucht üblich ist.
1 Cent pro Ei: Unterstützung durch Handel und Verbraucher
1 Cent pro Ei für die ökologische Tierzucht
Im März 2015 haben die Bio-Verbände Demeter und Bioland die Ökologische Tierzucht gGmbH gegründet. Deren Ziel ist es, Strukturen für eine von Konzernen unabhängige und patentfreie Tierzucht zu schaffen, die mit den Ansprüchen und Zielen des ökologischen Landbaus in Einklang steht. Der Schwerpunkt liegt zunächst auf dem Aufbau eigener Zuchtstrukturen im Bereich des ökologischen Geflügels, doch eine Partizipation auf allen Ebenen ist vorgesehen:
- Verbraucher können die ökologische Tierzucht durch den Kauf von Eiern mit dem ÖTZ-Siegel „1 Cent pro Ei für ökologische Tierzucht" unterstützen. Sie können aber auch direkt spenden.
- Bioläden und Naturkostgroßhändler beteiligen sich an der Kampagne, indem sie Eier mit dem ÖTZ-Siegel in ihr Sortiment nehmen und in einer konzertierten Aktion einen Cent pro verkauftem Ei an die ÖTZ weitergeben.
- Bauern unterstützen die Initiative, indem sie Tiere aus ökologischer Züchtung halten – als Aufzüchter, Mäster oder Eierproduzenten. Am Züchtungsprozess beteiligt ist unmittelbar, wer Daten aufnimmt, Erfahrungen dokumentiert und rückmeldet.
- Sponsoren und Förderer beteiligen sich durch finanzielle Zuwendungen, denn Züchtungsarbeit ist teuer und langwierig.
www.oekotierzucht.de |
Aufgrund des hohen Aufwands der Zuchtarbeit ist die ÖTZ auf Unterstützer angewiesen. In Form von „Unternehmenspatenschaften" haben sich eine Reihe von Kooperationspartnern verpflichtet, fünf Jahre lang für jedes gehandelte Ei einen Cent an die ÖTZ zu überweisen. Alle Eier, von deren Verkaufserlös ein Cent an die ÖTZ abgeführt wird, sind auf der Verpackung an dem Siegel „1 Cent pro Ei für ökologische Tierzucht" erkennbar. Durch die Kampagne wird die Aufmerksamkeit auf die wichtige Züchtungsarbeit gelenkt und die Konsumenten werden an der Arbeit der ÖTZ beteiligt.
Vorreiter für das konzertierte Engagement sind die regionalen Bio-Großhändler sowie die Ökokisten-Betriebe. Der Bundesverband Naturkost und Naturwaren (BNN) hat sich als ideeller Partner zur ÖTZ bekannt. „Durch das Fundraising für die ökologische Hühnerzucht über den Zusatz-Cent gestalten wir Zukunft aktiv mit, und zwar Hand in Hand mit unseren Kunden und Verbrauchern", freut sich Sascha Damaschun. Für ihn ist das Projekt ein gutes Beispiel dafür, wie man durch verantwortungsbewusste Preis- und Konsumentscheidungen konkrete Strukturveränderungen bewirken kann, und zwar nicht nur in der Tierzucht, sondern auch auf vielen anderen Aktionsfeldern der nachhaltigen Entwicklung.
Jüngst hat nun auch das Bundesministerium für Landwirtschaft ein Projekt mit dreijähriger Laufzeit zugesagt, das die Züchtung des Zweinutzungshuhns mit 600.000 Euro unterstützt. Kein Zweifel: Die Aussichten für Bruderhähne werden durch die Ökologische Tierzucht besser. Entscheiden über den Erfolg und einen Wandel der Tierzuchtpraxis in der Breite werden aber die mündigen Verbraucherinnen und Verbraucher mit ihrer Einkaufsmacht. Mehr denn je gilt: Einkaufen ist politisch. Das gilt auch für die Einkäufer der großen Supermarktketten. Sie entscheiden durch ihre Einkaufsmacht wohin sich unsere Landwirtschaft und damit unsere Lebensmittel entwickeln.
Fritz Lietsch