Kampf der Megatrends
Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit - Konkurrenz oder Fusion?
Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind die bestimmenden Megatrends unserer Epoche. Doch in welchem Verhältnis stehen sie zueinander und wie lassen sie sich im Management zum Wohle von Unternehmen und Gesellschaft verbinden?
Betrachtet man die zahlreichen Veröffentlichungen und Veranstaltungen zur Digitalisierung, zu Industrie 4.0 und dem Internet der Dinge, könnte man meinen, Nachhaltigkeit gerate als zentrales, gesellschaftliches Anliegen durch diese vermeintlich neuen Konkurrenten in die Defensive und in einen harten Verdrängungswettbewerb um das knappe Gut der öffentlichen Aufmerksamkeit. Bevor die Ablösung droht, empfiehlt sich nach dieser Lesart die thematische Fusion mit dem womöglich überlegenen Herausforderer als Überlebensstrategie.
Doch näher betrachtet, handelt es sich bei den Themen Nachhaltigkeit und Digitalisierung um ein ungleiches Paar, das sich für ein Kräftemessen kaum eignet, sondern vielmehr aufeinander aufbaut. Nachhaltigkeit ist ein visionäres Ziel, auf das sich viele Unternehmen und Bürger mit langem Atem willentlich zubewegen. Digitalisierung hingegen ist ein technologischer Prozess, als solcher weder gut noch böse, weder wünschenswert noch zu vereiteln, sondern eingesetztes Mittel und beschrittener Weg, um vielfältige Ziele zu erreichen, die man teilen oder ablehnen mag.
Technologien müssen an die Hand genommen werden
Der Titel dieses Beitrages kann leicht auf eine falsche Fährte führen: Nicht Nachhaltigkeit erfüllt eine Rolle für die Digitalisierung, sondern Digitalisierung kann als technologischer Prozess mit zur Nachhaltigkeit führen – oder eben nicht. Denn Technologien müssen an die Hand genommen werden, um ihren Nutzen zu entfalten, zum Beispiel als Beitrag zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen. Genau darin liegt die Rolle und Aufgabe des Nachhaltigkeitsmanagements. Ansatzpunkte hierzu sind vielfältig und zeigen sich am deutlichsten in der Produktion. „Industrie 4.0" soll zum Ausdruck bringen, dass nach der Dampfmaschine, dem elektrischen Fließband, dem elektronischen Computer nun die vierte Revolution hin zur „Smart Factory" ins Haus steht. Die „gescheite Fabrik" soll Vorteile der Massenproduktion mit den Ansprüchen einer flexiblen Maßanfertigung verbinden. Sie erlaubt nach den Plänen ihrer Wortschöpfer eine virtuelle Integration der Kunden und Geschäftspartner in Wertschöpfungsprozesse einer Produktionsanlage.
Als Dreh- und Angelpunkt dieser Vorstellung dient das Internet der Dinge zur Verschmelzung virtueller und realer Produktionsräume in Cyber-Physischen Systemen (CPS). Roboter übernehmen darin fast alle mechanischen Arbeiten, so dass Menschen sich voll auf ihre Rolle als Gestalter konzentrieren können. Über Touchscreens begleiten sie steuernd die fortgeschrittene Automatisierung. Mit zunehmender Bereitschaft, darin zu investieren, werden CPS die echtzeitliche Messung sowie Abbildung betrieblicher Stoff- und Energieströme erlauben. Ähnliches gilt für das Facility-Management der Gebäude sowie die Überwachung des Fuhrparkverbrauchs.
Folglich ermöglicht die Digitalisierung nicht nur ein schnelles Customizing, sondern auch mehr Ressourceneffizienz durch schlanke Produktionsabläufe und die Vermeidung von Ausschuss, Materialabfällen und Überproduktion. Eine vorausschauende Steuerung trägt mithilfe von Sensorik dazu bei, dass nur so viel Energie und Material in Produktionssysteme einfließen, wie tatsächlich zur Bedienung der Kundenwünsche benötigt werden. Anforderungen einer Kreislaufwirtschaft zur Schonung der Primärrohstoffe können gleichfalls berücksichtigt werden, wenn Informationen über die Verfügbarkeit von Sekundärrohstoffen in die Systeme einfließen.
Handschrift des Nachhaltigkeitsmanagers im Pflichtenheft
Für das Nachhaltigkeitsmanagement erwächst daraus die Aufgabe, sich in die Planung anstehender Bau- und Modernisierungsmaßnahmen rechtzeitig einzuklinken, damit gebotene Chancen einer energetischen und stofflichen Abbildung sowie Steuerung betrieblicher Prozesse nicht verschlafen werden. Nachhaltigkeitsmanager sollten danach streben, ihre Handschrift im Pflichtenheft der bestellten Hard- und Software zu hinterlassen. Voraussetzung hierfür ist die Wissensaneignung über das aktuelle Angebot und den Stand der Technik zum spezifischen Investitionsvorhaben. Damit vertiefen sich einerseits Ansprüche an das technische Verständnis und die Durchsetzungsfähigkeit des Nachhaltigkeitsmanagements sowie andererseits Ansprüche an IT-Verantwortliche, die Nachhaltigkeitsrelevanz ihrer Entscheidungen zu erkennen. Solche Ansprüche beschränken sich nicht auf die Produktionsgestaltung, sondern erstrecken sich auch darauf, Potenziale und Gefahren aus der Entwicklung und Nutzung digitalisierter Produkte vorausschauend zu beurteilen.
Seit 15 Jahren engagieren sich die Autoren dieses Beitrages in der Ausbildung und Professionalisierung von Nachhaltigkeitsmanagerinnen und –managern. In dieser Zeit haben gravierende disruptive Veränderungen stattgefunden: Google ging 2004 an die Börse, nur etwas später übernahm Apple den Markt für smarte Mobiltelefone. Als aktueller Innovationsschub steht derzeit die Verschmelzung vom Digitalen mit dem Dinglichen an. Dies birgt große Potenziale. Geradezu sinnbildlich bringen 3D-Drucker diesen Übergang vom Digitalen zum Dinglichen in Plastiken zum Ausdruck. 3D-Druck erweitert den Spielraum für digitale Konstruktionen in Leichtbauweise. Gegenüber herkömmlichen Techniken gilt das Verfahren, etwa bei der Fertigung von Flugzeugteilen, als abfallreduzierend. Zusätzliche Effekte ermöglicht die schnelle, kostengünstige Anfertigung von Ersatzteilen für Gegenstände, die wegen kleinster Bruchstellen bislang häufig komplett ausgetauscht werden. Damit eröffnet die Technologie neue Geschäftsfelder für Reparatur-Services.
Ökobilanzen von Fall zu Fall unterschiedlich
Zusammen mit anderen digitalen Techniken dienen 3D-Drucker einer Dezentralisierung, wenn einfache Produkte wie Spielzeug nicht mehr zentral in fernöstlichen Fabriken auf Halde erzeugt werden, sondern kostengünstig im Print-on-Demand-Verfahren aus kundennahen Druck-Centern oder Druckern der Kunden kommen. Der globale Güterverkehr lässt sich dadurch verringern. Lagerräume entfallen. Die Bestellung von Fotobüchern bietet bereits ein Geschäftsmodell, das sich mit 3D-Druckern bequem auf Portrait-Hologramme und viele andere Artikel ausdehnen lässt. Damit kommt die Kehrseite der neuen Technologie zum Vorschein.
So gehören Kunststoff-Büsten von Familienangehörigen wohl bald zu jenen Dingen, die sich unter zahlreichen Weihnachtsbäumen auftürmen, obwohl man bisher ganz gut ohne sie zurechtkam. Deshalb ist die Sorge leicht nachzuvollziehen, dass den genannten Vorteilen der Nachteil einer Mehr-Produktion neuer Artefakte gegenübersteht. Denn Effizienzvorteile entfaltet der 3D-Druck vor allem in der Design-Phase, weil sich Prototypen kostengünstig entwerfen und erproben lassen. Damit dürften sich jedoch Produktlebens- und Modezyklen weiter verkürzen, und im Hausgebrauch können 3D-Drucker jede Menge Müll erzeugen, allein durch Skulpturen und Fehldrucke die aus Spielerei entstehen. Mit so ausschweifenden Möglichkeiten lässt sich die Frage, ob der 3D-Druck Ressourcen schont oder verschwendet, nicht generell beantworten, weil entsprechende Ökobilanzen in jedem Einzelfall abhängig vom Produkt, dem verwendeten Material, der Auslastung der Maschinen und dem Verhalten der Anwender sind. Dies unterstreicht die Bedeutung des Nachhaltigkeitsmanagements bei der fallspezifischen Beurteilung, Auswahl und Nutzung neuer Fertigungsmöglichkeiten. Beim 3D-Druck sollten Nachhaltigkeitsmanager versiert mitreden können, insbesondere ist die Beschaffenheit und Recyclingfähigkeit der eingesetzten Druckstoffe im Vergleich zu bisherigen Materialien ökologisch zu bewerten.
Nachhaltigkeitsmanager in allen Abteilungen
In ähnlicher Weise bergen die beliebten Visionen vom „Smart Home" über „Smart Mobility" bis zur „Smart Health" vielfältige Chancen, aber auch Gefahren für eine nachhaltige Entwicklung, die auszuloten, anzusteuern oder zu umgehen sind. Erfolge in der Nachhaltigkeitsleistung stellen sich durch digitalisierte Produktions- und Gebäudetechnik nicht automatisch ein, sondern nur dann, wenn die dafür enthaltenen Funktionen aktiviert, richtig konfiguriert sowie regelmäßig überprüft werden. Menschlicher Sachverstand und Gewissenhaftigkeit lassen sich durch digitale Technik nicht ersetzen, ihre Bedeutung konzentriert sich vielmehr auf die Voreinstellung verwendeter Hard- und Software durch wenige Anwender und Programmierer. Erscheinen Stoffstrom-Diagramme in Echtzeit auf dem Touchscreen, helfen diese Informationen dem Anwender nur weiter, wenn er die darin enthaltene Information versteht, Möglichkeiten einer Optimierung erkennt und gewillt ist, diese umzusetzen, auch unter Inkaufnahme von Trade-offs, zum Beispiel zwischen Durchlaufzeit und Energieverbrauch. Der Weg der Umweltdaten und ihr Potenzial sind damit völlig anders gelagert als bei der nachträglichen Auswertung verschiedener Abrechnungen, SAP-Listen und Datenprotokollen im stillen Büro.
„Implizite Nachhaltigkeitsmanager", die als Werksleiter, Vorarbeiter, Einkäufer oder Facility-Manager oft ad hoc darüber entscheiden, wie Nachhaltigkeit zu optimieren ist, werden wichtiger. Dies gilt besonders für die oben umrissene Technikbeschaffung, denn wohl auch zukünftig werden explizite Nachhaltigkeitsmanager in Planungen selten oder spät einbezogen. Damit wird die Aufgabe der expliziten Nachhaltigkeitsexperten im Unternehmen maßgeblich, die Kompetenzen impliziter Nachhaltigkeitsmanager zu stärken und deren Bereitschaft zu fördern, im Rahmen ihrer steuernden Tätigkeiten auch die Nachhaltigkeit in der Ideallinie zu führen. Eigenverantwortliches Handeln, permanente Selbstoptimierung sowie schnelle Verständigung in Netzwerken mit teils unklarer hierarchischer Zuordnung prägen den sozialen Umgang in digitalisierten Arbeitswelten. Das gekonnte Zusammenspiel lateral verbundener Kollegen, innerbetriebliches Networking, Bildungsarbeit und soziale Durchsetzungsstärke gewinnen als Schlüsselqualitäten des Nachhaltigkeitsmanagements mit der Digitalisierung folglich noch mehr Relevanz.
Die skizzierten Herausforderungen machen damit vor allem eines deutlich: Digitalisierung wird das Nachhaltigkeitsmanagement nicht auflösen, denn Aufgabenfeld und Berufsbild des Nachhaltigkeitsmanagers lassen sich nicht digital einlesen und ausfüllen. Digitalisierung macht dieses Aufgabenfeld vielmehr anspruchsvoller und breiter, sowohl für explizite als auch für implizite Nachhaltigkeitsmanager.
Prof. Dr. Stefan Schaltegger ist Professor für Nachhaltigkeitsmanagement und Leiter des Centre for Sustainability Management (CSM) an der Leuphana Universität Lüneburg. Dort feiert der MBA-Studiengang Sustainability Management in diesem Jahr das 15-jährige Jubiläum. Zusammen mit B.A.U.M. veranstaltet er regelmäßig das Sustainability Leadership Forum (SLF).
Prof. Dr. Holger Petersen ist gelernter Bankkaufmann und seit 2017 Professor für Nachhaltigkeitsmanagement an der Nordakademie Elmshorn. Zuvor arbeitete er als Dozent und Autor am CSM und koordinierte den Wissenstransfer zu Unternehmen, insbesondere mit dem SLF, einem Arbeitskreis mit Unternehmen für vorbildliches Nachhaltigkeitsmanagement.
Gesellschaft | Megatrends, 10.04.2018
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2018 - Digital in die Zukunft? Tierische Geschäfte! erschienen.
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