Ist die Zertifizierungen von Gebäuden sinnvoll?

11 Argumente, warum eine Nachhaltigkeitszertifi­zierung mehr ist als ein Wettlauf um Platin, Gold und Silber

Wer sich mit nachhaltigen Gebäuden beschäftigt, stößt über kurz oder lang auf Zertifikate in den verschiedensten Ausprägungen. Dabei ist die werbewirksame Plakette nur der letzte Baustein eines langen Prozesses, den ein Bauprojekt durchläuft.
 
Die Wittenstein Innovationsfabrik glänzt mit einem DGNB Zertifikat in Platin. © Wittenstein AG1. Frühzeitig informierte Entscheidungen treffen
Je später im Planungs- und Bauprozess grundlegende Änderungen vorgenommen werden, umso größer sind die Kosten, die dabei entstehen. Und umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass avisierte Termine nicht eingehalten werden. Die zahlreichen schief laufenden Großprojekte wie in Berlin und Stuttgart sind hier die bekanntesten unrühmlichen Beispiele. Dem gegenüber steht die Idee der integralen Planung, wie sie die Zertifizierung verfolgt. Dabei werden schon ganz zu Beginn die wichtigsten planerischen Aspekte gemeinsam von den am Bau Beteiligten besprochen und wohlüberlegte Entscheidungen getroffen. Dazu gehört auch, dass man die Zielkonflikte, die es bei einem komplexen Thema wie dem Bauen immer gibt, nicht negiert, sondern über Variantenrechnungen die Potenziale für das jeweilige Projekt erkennt und nutzt. Das Ergebnis im Idealfall: „Projects on time and budget".
 
2. Die Kostenfrage richtig stellen
Wie teuer ist nachhaltiges Bauen? Die eigentliche Frage müsste aber lauten: teuer im Vergleich zu was? Und: Über welchen Zeitraum betrachte ich die Kosten überhaupt? Das gilt für das Monetäre genauso wie für die Kosten, die die Umwelt zu tragen hat in Form von Emissionen oder verbrauchten Ressourcen. Eine Zertifizierung trägt dazu bei, hier die nötige Weitsicht zu zeigen, auch mittel- bis langfristige Auswirkungen transparent zu machen und die Kostenfrage damit ehrlich und umfassend zu beantworten. Die Methoden der Ökobilanzierung und Lebenszykluskostenberechnung haben sich hierzu in den letzten Jahren im Kontext der Gebäudezertifizierung etabliert. Dabei fängt die Kostenrechnung schon bei der Rohstoffgewinnung, Verarbeitung und Herstellung der eingesetzten Materialien und Produkte an. Sie geht über die Planungs- und Bauphase hinaus in den Gebäudebetrieb und endet mit dem späteren Rückbau des Gebäudes. Hierfür setzt die Zertifizierung zumeist einen Zeitraum von 50 Jahren an. Wer zertifiziert, wird also angehalten, schon in einer frühen Planungsphase mitzudenken, ob ein Gebäude auch von späteren Nutzern noch bezahlbar betrieben und instand gehalten werden kann.
 
3. Den Menschen in den Mittelpunkt setzen
Bei allen budgetären Einschränkungen, die ein Bauprojekt haben mag: Die Antwort auf die Frage, für wen wir eigentlich bauen, sollten wir uns immer wieder vergegenwärtigen. Es sind die Menschen, die sich in den Gebäuden aufhalten, die dort leben, arbeiten oder ihre Freizeit verbringen. Eine Zertifizierung hilft dabei, diesen Fokus nicht zu verlieren. Die Zertifizierung, zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB), adressiert mit zwei Dritteln der Kriterien den Menschen mit seinem Bedürfnis nach Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit. Dabei geht es unter anderem um eine gute Innenraumluftqualität, einen hohen Komfort und die Möglichkeit, die Raumkonditionen nach seinen eigenen Präferenzen beeinflussen zu können. Es geht um Barrierefreiheit und ein hohes Sicherheitsempfinden, aber auch um die Vermeidung von negativen Einflüssen wie Lärm oder Staub.
 
4. Die Gegebenheiten des Quartiers für sich nutzen
Auch wenn ich für mich selbst baue, steht mein Gebäude immer auch in einem städtebaulichen Kontext. Eine Zertifizierung setzt Anreize, sich mit diesem Umfeld aktiv auseinanderzusetzen und Synergien zu nutzen. Das beschränkt sich nicht nur auf den Beitrag eines Gebäudes zur Aufwertung des Quartiers, etwa über eine hohe Attraktivität der öffentlich nutzbaren Außenflächen. Profitieren kann man auch auf technischer oder sozialer Ebene. Hierbei geht es um das Thema Energieversorgung oder um Smart Grids, genauso wie um die gemeinsame Nutzung von Freizeitangeboten, Kantinen, Kindertagesstätten oder Ähnlichem. Auch bei der Verkehrsanbindung, z.B. im Bereich des Bike- oder Carsharings, lassen sich gemeinsam Potenziale heben, wenn bei der Planung über die Gebäudegrenze hinweg die Nachbarschaft mit betrachtet wird.
 
5. Innovationsräume finden und nutzen
Eine Zertifizierung kann auch auf eine weitere Art dazu motivieren, über Grenzen hinaus zu denken. So bietet etwa die DGNB bei vielen Kriterien, mit denen sich das Bauherrn- und Planerteam beschäftigen muss, so genannte Innovationsräume an. Neuartige Lösungsansätze können dabei in gleicher Weise in der Zertifizierung berücksichtigt werden wie bestehende, sofern sie nachweislich zum selben oder besseren Ergebnis führen. Möglich ist das, weil nicht Einzelmaßnahmen an sich belohnt, sondern deren Wirkungen auf die Gebäudeperformance betrachtet und honoriert werden. Der Weg zum Ziel wird nicht fest vorgegeben. Architekten und Planer werden nicht in starre Rahmen gezwängt.
 
6. Beitrag zur Energie- und Verkehrswende leisten
In der Bau- und Immobilienwirtschaft liegen enorme Hebel für viele globale Herausforderungen, etwa im Bereich der Ressourcenschonung oder der Reduktion von CO2-Emissionen. Auch die Politik versteht, dass es eine sinnvolle Sektorkopplung geben muss, um bei den großen Themen vorwärts zu kommen. Auch wer baut, kann seinen Beitrag zur Energie- und Verkehrswende leisten. So werden Anlagen am Gebäude, die ein bidirektionales Laden von Elektrofahrzeugen ermöglichen, in der Zertifizierung genauso positiv bewertet wie die Einbindung von regenerativen Energien für die im Gebäude erforderlichen technischen Systeme.
 
7. Nachhaltigkeitsleistungen ausweisbar machen
Mit den Sustainable Development Goals (SDGs) haben die Vereinten Nationen übergeordnete Ziele zur nachhaltigen Entwicklung formuliert, an denen sich auch Unternehmen bei ihren CSR-Aktivitäten orientieren können. Um den Link zwischen den SDGs und dem nachhaltigen Bauen zu schaffen und damit die umgesetzten Maßnahmen rund um die Gebäude ausweisbar zu machen, hat die DGNB sämtliche ihrer 37 Kriterien auf ihren Beitrag zu den SDGs hin abgeglichen. So kann die Zertifizierung auch für die Nachhaltigkeitsberichterstattung und Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden. Ein Beispiel ist das Kriterium „Verantwortungsbewusste Ressourcengewinnung", das gleich auf drei SDGs einzahlt. Hier punktet, wer konsequent darauf achtet, dass die eingesetzten Rohstoffe unter ökologisch und ethisch anerkannten Standards gewonnen und verarbeitet wurden.
 
8. Qualität sichern
Die verbindende Klammer bei allen Aspekten der Nachhaltigkeit ist Qualität. Diese gilt es, so gut es geht, zu sichern, um tatsächlich von Zukunftsfähigkeit sprechen zu können. Die Qualität entlang der gesamten Wertschöpfungskette im Bauen hoch zu halten, ist nicht trivial. Schließlich gibt es eine Reihe von kritischen Sollbruchstellen im Planungs- und Bauprozess. Eine Zertifizierung kann hier wertvolle Hilfestellung leisten. Ein Beispiel ist eine Materialüberwachung auf der Baustelle. So wird belohnt, wenn die Bauleitung in Bezug auf die zu verwendenden Bauprodukte in die dazugehörigen Anforderungslisten eingewiesen wird. Das ist wichtig, damit nicht aus Versehen auf der Baustelle doch zum falschen Kleber oder Farbeimer gegriffen wird und so Schad- und Risikostoffe durch die Hintertür den Weg ins Gebäude finden.
 
9. Auf den Gebäudebetrieb vorbereiten
Ein neues Gebäude unter den vielfältigen Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit zu planen und bauen, ist ein wichtiger Schritt. Aber eben auch nur der erste. Alle im Gebäude angelegten Nachhaltigkeitspotenziale müssen in der eigentlichen Gebäudenutzung letztlich auch ausgeschöpft werden – im Zusammenspiel von Eigentümer, Betreiber und Nutzer. Diese Anschlussfähigkeit ist in der Zertifizierung strukturell mit verankert. Gefördert wird eine geordnete Inbetriebnahme genauso wie eine Planung, die die Spezifika des Facility Managements adäquat mit berücksichtigt. Und auch eine frühzeitige Nutzerkommunikation, also das aktive Informieren der späteren Nutzer des Gebäudes, ist gewünscht. Dies soll die Menschen, die sich in den Gebäuden aufhalten, dazu motivieren, sich dort auch so nachhaltig wie möglich zu verhalten.
 
10. Nachweislich bessere Gebäude bauen
Eine Zertifizierung, unabhängig ob sie nun LEED, BREEAM oder DGNB heißt, dient immer auch der unabhängigen Verifikation, dass das Gebäude tatsächlich nachhaltig ist. Behaupten ist das eine, es von einer neutralen Instanz bestätigen zu lassen das andere. Die Basis dafür ist im Falle der DGNB-Zertifizierung nicht das Werk Einzelner, sondern das geballte Wissen der deutschen Bau- und Immobilienbranche. Denn die Kriterien wurden von den zahlreichen Experten der rund 1.200 Mitgliedsunternehmen, die sich innerhalb der Non-Profit-Organisation engagieren, erarbeitet und kontinuierlich weiterentwickelt.
 
11. Auf der zukunftssicheren Seite sein
 Schlussendlich steht eine Zertifizierung für Risikominimierung und Zukunftssicherheit, denn sie fußt auf der geltenden Normung und Gesetzgebung, im Idealfall mit den gültigen und den zu erwartenden Regularien in dem Land, in dem die Zertifizierung angestrebt wird. Ein Beispiel ist der Einsatz von Kältemitteln, bei denen heute schon klar ist, was in den kommenden Jahren rechtlich gefordert sein wird. So trägt eine Zertifizierung dazu bei, teuren Umrüstungen und Sanierungsmaßnahmen frühzeitig vorzubeugen, und ist weit mehr als eine schmucke Plakette, die sich gut zu Marketingzwecken einsetzen lässt.
 
Felix Jansen verantwortet die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der DGNB. Zuvor war der Kommunikations- und Medienwissenschaftler in zahlreichen Unternehmen und Organisationen tätig, unter anderem für die internationale Start-up-Initiative CODE_n, den Exzellenzcluster SimTech der Universität Stuttgart und die MFG Baden-Württemberg.

Quelle: DGNB - Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen

Technik | Green Building, 10.04.2018
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