Manfred Spitzer warnt
Digitale Demenz droht
Muss die Bildung digitaler werden, wie man allerorten hört? Studien zeigen verheerende Auswirkungen des digitalen Medienkonsums auf Gehirn und Gesundheit und werfen ein neues Licht auf den derzeitigen Bildungstrend.
Vor einigen Jahren bemerkte man im hochmodernen Industriestaat Südkorea bei jungen Erwachsenen immer häufiger Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung. Die Diagnose von Ärzten lautete damals offiziell: digitale Demenz. So nannten sie das Krankheitsbild, das in Folge von intensiver Nutzung moderner Informationstechnik auftrat – in der Medizin werden mit Demenz ganz allgemein Krankheiten bezeichnet, die mit der Abnahme höherer geistiger Leistungen verbunden sind.
Nähere Untersuchungen, die weltweit zu dem Thema durchgeführt wurden, stellten jedoch noch weitere erschreckende Folgen digitaler Medien fest: Kurzsichtigkeit, Angst, Depression, Aufmerksamkeitsstörungen, Schlafstörungen, Bewegungsmangel, Übergewicht, Haltungsschäden, Diabetes, Bluthochdruck, Sucht (Internetsucht, Computerspielsucht, Smartphonesucht, Facebooksucht). Zudem vermindern digitale Medien die Lebenszufriedenheit sowie das Mitgefühl und die Fähigkeit zum Einnehmen der Sichtweise eines anderen.
Großbaustelle Gehirn – das Wunder der synaptischen Verknüpfungen
Die Entwicklung ist besorgniserregend und erfordert vor allem bei Kindern eine Konsumbeschränkung, um die Gehirnbildung nicht zu beeinträchtigen, denn das Gehirn von Kindern ist besonders prägbar. Das menschliche Gehirn besteht aus etwa hundert Milliarden Nervenzellen. Etwa eine Billiarde ihrer Verknüpfungen, Synapsen genannt, unterliegen in der Großbaustelle Gehirn einem beständigen Abbau, Neubau und Umbau: Wenn Neues gelernt wird, entstehen neue Verbindungen. Was nicht gebraucht wird, wird weggeräumt. Daraus folgt eines ganz automatisch: Die heute übliche tägliche Mediennutzung durch Kinder und Jugendliche kann eines nicht haben: keine Auswirkungen! Immerhin beträgt der durchschnittliche Konsum digitaler Medien in Deutschland bei 8 bis 12jährigen sechs Stunden täglich und bei 13 bis 18jährigen neun Stunden täglich.
Greifen versus wischen
Seit mehr als 40 Jahren wird in der Lern- und Gedächtnispsychologie die Tiefe der Verarbeitung eines Sachverhalts erforscht. Je tiefer etwas verarbeitet wird, desto besser wird es im Gedächtnis gespeichert. Es zeigte sich, dass Lerninhalte desto besser gespeichert werden, je sinnlicher diese Lerninhalte erlebt werden. Das heißt, es ist nicht nur von größter Bedeutung, was gelernt wird, sondern insbesondere auch, wie etwas gelernt wird. Vor allem das sensomotorische Be-greifen von Gegenständen fördert im wahrsten Sinne des Wortes das geistige Begreifen der Welt. Versuche zeigten, dass sich Probanden neue Objekte bereits dann signifikant besser merken konnten, wenn sie während des Erlernens eine pantomimische Bewegung ausführen mussten, als wenn sie nur darauf zeigen mussten. Wer sich die Welt also nur durch Mausklick erschließt, wird deutlich schlechter über sie nachdenken können. Je oberflächlicher man einen Sachverhalt behandelt, desto weniger Synapsen werden im Gehirn aktiviert, mit der Folge, dass weniger gelernt wird. Angesichts dessen ist es bedenklich, wenn, so wie heutzutage am Computer, die Texte nur oberflächlich abgeschöpft werden, man nur „herumsurft". Die Tiefe der Verarbeitung ist hier sehr gering. Auch das Bewegen eines Inhalts mit einer Zeigebewegung am Touchscreen, die für jeden Inhalt dieselbe ist, festigt diesen Inhalt nicht. Mit einem Wort kann man kaum etwas Oberflächlicheres anstellen, als es auf einem Bildschirm mit der Hand zu berühren und es woanders hin zu ziehen. Abschreiben hat einen nachweislich viel einprägsameren Effekt, denn hierbei muss das Wort memoriert und anschließend erneut geschaffen werden. Das alles bedeutet: Gerade weil uns der Computer geistige Arbeit abnimmt, hat er einen negativen Effekt auf das Lernen.
Computer zum Lernen im Praxistest
Fast alle Studien, die dem Einsatz von Computern an Schulen einen Erfolg attestierten, wurden von der Computerindustrie und den Telefongesellschaften angestoßen und gesponsert. Bis heute gibt es keine unabhängige Studie, die zweifelsfrei nachgewiesen hätte, dass Lernen allein durch die Einführung von Computern und Bildschirmen in Klassenzimmern effektiver wird. Studien, die das Gegenteil aufzeigen, gibt es hingegen durchaus. Misst man etwa die Leistung von Schülern beim Lernen mit und ohne Computer, so zeigt sich beim computergestützten Lernen ein negativer Effekt auf die Leistung. Im Kleinkindalter wirken sich Bildschirmmedien noch verheerender aus. Hier belegen Studien, dass Bildschirmmedien für das Lernen nicht nur nichts taugen, sondern Lerneffekte sogar massiv verhindern.
Der beste Schutz vor Demenz
Wie wichtig die Gehirnbildung in der Jugend für den Verlauf des geistigen Abstiegs im Alter ist, zeigte eine der bedeutendsten Studien zum Altern, die jemals durchgeführt wurde. Der Arzt und Wissenschaftler David Snowdon konnte 678 Nonnen eines Ordens im Alter von 76 bis 107 Jahren davon überzeugen, an einer Längsschnittstudie teilzunehmen. Diese Studie beinhaltete, sich jedes Jahr untersuchen und testen zu lassen und nach dem Tod das Gehirn zur wissenschaftlichen Untersuchung zu spenden. Schwester Maria beispielsweise, eine Teilnehmerin der Studie, war bis ins Alter von 84 Jahren als Lehrerin tätig gewesen und verstarb mit 101 Jahren an einem Tumorleiden. Bis zuletzt war sie geistig noch sehr rege. Auch die im letzten Jahr vor ihrem Tod gemachten Tests zur Ermittlung der intellektuellen Leistungsfähigkeit zeigten keinerlei krankhafte Auffälligkeiten. In krassem Gegensatz dazu war jedoch ihr Gehirn: Es war voller krankhafter Veränderungen, wie sie für Alzheimer-Demenz typisch sind. Doch dies war kein Einzelfall, vielmehr fand man eine ganze Reihe von Personen, die bis unmittelbar vor ihrem Tod geistig anspruchsvolle Aufgaben lösen konnten, bei deren Gehirnsektion man aber deutliche Zeichen einer bereits vorhandenen Demenzkrankheit feststellte.
Was lernen wir daraus? Eine rege geistige Tätigkeit kann körperliche Veränderungen, wie sie bei Alzheimer-Demenz auftreten, zwar nicht verhindern. Jedoch kann man sich durch geistige Tätigkeit einen wachen Geist bis ins hohe Alter erhalten, selbst wenn das Gehirn bereits krank ist.
Heute weiß man: Der beste Schutzfaktor vor der Entwicklung einer Demenz ist die in jungen Jahren aufgebaute und erreichte Bildung eines Menschen. Daher sind nicht nur die Auswirkungen digitaler Medien auf die Gesundheit zu bedenken, sondern auch deren verheerende Auswirkungen auf die Bildung. Digitale Medien machen das Lernen nicht besser, wie gegenwärtig nahezu immer und überall behauptet wird. Im Gegenteil: Eine große Zahl von Studien belegt eindeutig, dass Computer, Tablets, Smartphones, Internet und WLAN dem Lernen schaden und die Bildung insgesamt vermindern. Warum wurden sonst in Frankreich Smartphones an Schulen verboten und in Südkorea schon vor Jahren Gesetze verabschiedet, um junge Menschen vor den schlimmsten Auswirkungen der digitalen Informationstechnik zu schützen? Für unsere gesamte Gesellschaft gilt: Wir haben nichts außer die Köpfe der nächsten Generation, wenn es um unseren Wohlstand und den Erhalt unserer Kultur geht. Hören wir auf, sie systematisch zu vermüllen!
Manfred Spitzer ist Professor für Psychiatrie und leitet die psychiatrische Universitätsklinik in Ulm sowie das von ihm 2004 gegründete Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Im Bildungskanal des Bayrischen Rundfunks lief über Jahre seine wöchentliche TV-Sendung „Geist & Gehirn". Er publizierte die medienkritischen Bücher Vorsicht Bildschirm (2005), Digitale Demenz (2012) und Cyberkrank! (2015), die in insgesamt mehr als 15 Sprachen übersetzt wurden. Sein neues Buch trägt den Titel Die Smartphone-Epidemie und erscheint diesen September.
Gesellschaft | Bildung, 01.09.2018
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/03 2018 - Wasser - Grundlage des Lebens | Bildung erschienen.
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