Mieterstrom macht Quartiere smart
Microgrids städtischer Quartiere als ideales Testfeld
Das Rückgrat zukunftsfähiger Städte ist eine zunehmend dezentrale und digitale Energie-Infrastruktur. Sie bietet Schnittstellen für diverse Dienstleistungen und Anlagentechnik und steigert damit die Effizienz des Gesamtsystems. Ein ideales Testfeld sind die Microgrids städtischer Quartiere. Hier werden dezentrale Stromproduktion und Strombedarf aufeinander abgestimmt, über Bewohner, Heizungsanlagen, Speicher, Elektroautos und Co. hinweg. Das ermöglicht eine optimierte Ressourcennutzung und Prozessgestaltung, die für die urbane Entwicklung immer wichtiger wird.
Die Lebensqualität in immer komplexeren und größeren Ballungsgebieten aufrecht zu erhalten, erfordert einen zunehmend effizienten, klima- und umweltfreundlichen Umgang mit den natürlichen Ressourcen sowie Angebote zum sozialen Miteinander, wie zum Beispiel das Car- oder Room-Sharing. Technik und Digitalisierung sind dabei kein Selbstzweck, sondern – richtig genutzt – wirkungsvolle Mittel, um unser Leben zu erleichtern.
Intelligente Vernetzung in einer Smart City
Durch die Verknüpfung und somit das Teilen der benötigten Ressourcen zwischen Sektoren, Anlagen und Akteuren und die Abstimmung von Energieerzeugung und -bedarf können schon heute in einzelnen Quartieren große Effizienzgewinne realisiert werden. Gleichzeitig wird die Netzinfrastruktur entlastet. Die Integration von smarten Elektrogeräten in die Energienetze eröffnet neue Geschäftsmodelle und mehr Komfort. Angesichts der komplexen Verflechtungen in einer Stadt sind hierzu intelligente Prozesse und ein umfassendes Datenmanagement gefragt. Die Steuerung erfolgt zunehmend durch komplett automatische, mittels künstlicher Intelligenz koordinierte Systeme.
Smart Grids im Mieterstrom
Laut Experten des Fraunhofer Instituts ist die Stadt der Zukunft polyzentrisch strukturiert. Die Entwicklung von dezentralen Stadtvierteln hat den Vorteil, dass die infrastrukturelle Komplexität abnimmt und neue Konzepte leichter und schneller erprobt werden können.
Ein ideales Beispiel hierfür ist die Mieterstromversorgung. Mieterstrom bezeichnet die Versorgung der Bewohner eines Gebäudes oder auch ganzer Quartiere mit lokal erzeugter Energie. Das Ganze erfolgt in der Regel über smarte Netze, in denen alle Energieerzeuger und -abnehmer mittels intelligenter Messgeräte, sogenannter Smart Meter, vernetzt sind.
Für den Erfolg smarter Netze ist die technologieoffene Gestaltung wichtig. Hier besteht noch Nachholbedarf, weil die Schnittstellen zwischen den Anlagen keine gemeinsame Sprache haben. Hersteller haben sich daher in Allianzen zusammengeschlossen, mit dem Ziel, Standardisierungen in der Gerätekommunikation zu erarbeiten. Gelingt hier der Durchbruch, sind energieeffiziente Lösungen durch eine flexible, herstellerunabhängige und aufeinander abgestimmte Verbrauchssteuerung der Geräte im Smart Home auf breiter Ebene möglich.
Sektorenkopplung
Mit der Zunahme neuer großer Stromverbraucher, wie zum Beispiel Wärmepumpen, wächst das Interesse, lokal erzeugten Strom in verschiedenen Sektoren vor Ort zu nutzen. Das senkt etwa den zum Betrieb der Wärmepumpe angesetzten Primärenergiefaktor und hilft, Gebäudeeffizienz-Kriterien zu erfüllen. Wärmepumpen beziehen aber nicht nur Strom aus dem Netz, sie können umgekehrt auch netzstabilisierende Energiedienstleistungen erbringen. Denn durch ihren Pufferspeicher sind sie in der Lage, zeitversetzt Strom aufzunehmen, etwa wenn Überschussstrom im Netz vorhanden ist. Genauso werden Blockheizkraftwerke durch Mieterstrom effizienter genutzt, weil der hier vor allem im Winter erzeugte Strom direkt in die lokale Stromversorgung einfließt.
Integrierte Elektromobilität
Die Verbreitung von E-Ladestellen in den Städten nimmt in den nächsten Jahren, politisch und wirtschaftlich gefördert, stark zu. Sie sinnvoll in die lokalen Energienetze zu integrieren erfordert ein intelligentes Lademanagement und die Kombination mit weiteren Anlagen, etwa Stromspeichern. Das erhöht den Anteil erneuerbarer Energien, der zum Laden der Fahrzeuge zur Verfügung steht und senkt die Stromkosten.
Die Integration von E-Ladestellen in die Energienetze fördert ferner die Entwicklung neuer Elektromobilitätskonzepte wie E-Carsharing, E-Roller und E-Bikes. Schließlich bieten diese Angebote den Bewohnern ein Mehr an Komfort ohne hohe Mehrkosten.
In Zukunft können Elektrofahrzeuge mit ihren Batterien – genauso wie Wärmepumpen – netzstabilisierende Funktionen übernehmen. Wird weniger Strom produziert als benötigt, speisen die parkenden Elektroautos Strom aus ihren Batteriespeichern ins lokale Netz. Besteht hingegen ein Überschuss an Strom, werden sie durch intelligentes Lademanagement direkt geladen. Solche Vehicle2Grid-Konzepte werden bereits in mehreren Forschungsprojekten erprobt.
Sharing Economy
Das Teilen von Gegenständen und Dienstleistungen ist im städtischen Leben seit einigen Jahren präsent. AirBnB und Uber haben die Entwicklung vorangetrieben. Kann in Zukunft zwischen einzelnen Haushalten Strom geteilt werden, sind neue Ansätze geschaffen, die das Gemeinschaftsgefühl und zugleich eine effiziente Ressourcennutzung stärken. In Mieterstromprojekten wird das heute schon umgesetzt und Strom innerhalb großer Mehrfamiliengebäude und Quartiere geteilt. Es ist eine wichtige Entwicklung, um die dezentrale Stromversorgung fair zu gestalten und alle Haushalte einzubeziehen. Aktuell sind dem Teilen von Strom über Gebäude und Siedlungen hinaus aus regulatorischen Gründen noch Grenzen gesetzt.
Beispiel smartes Mieterstromkonzept
In Esslingen entsteht derzeit das Quartier Lok.West. Es beherbergt auf etwa 5.600 Quadratmetern 9 Gewerbeeinheiten und 132 Wohneinheiten mit 21 bis 150 Quadratmetern. Bis 2022 werden insgesamt rund 500 1- bis 4-Zimmer-Wohnungen und private sowie öffentliche Grünflächen und Höfe gebaut. Geplant, realisiert und später auch verwaltet wird das gesamte Quartier Lok.West vom Saarbrücker Immobilienentwickler RVI.
Zur klimaneutralen Energieversorgung – eine Forderung der Stadt Esslingen – wurde auf dem ersten Gebäude Béla eine Photovoltaik-Dachanlage errichtet. Zusammen mit einem BHKW werden damit bis zu 70 Prozent des Strombedarfs gedeckt – und das ohne Speicher. Möglich macht es das Mieterstromangebot und ein intelligentes Versorgungskonzept mittels Smart Grid, Smart Metern, smarten Apps und smarten Haushaltsgeräten. So werden beispielsweise die Mieter in Lok.West per App über die aktuelle Energieerzeugung und den Verbrauch in ihrem Gebäude informiert werden. Ziel ist es, dass sie bevorzugt dann Strom verbrauchen, wenn ein Stromüberfluss besteht. Denn die Zukunft liegt nicht allein im Energie sparen durch effiziente Geräte und eine gute Gebäudedämmung, sondern genauso im Wissenstransfer, um bewusst Energie verbrauchen zu können.
Digitale Transaktionsmodelle
Mit ihren smarten Microgrids sind Mieterstromprojekte ideal geeignet, energiewirtschaftliche Prozesse zu simulieren. Dazu werden in Feldtests kleine Strommengen in Peer-to-Peer-Prozessen gehandelt und abgerechnet. Ermöglicht wird das durch den Einsatz von Smart Metern, mit denen Lokalstrommengen in Echtzeit und vollautomatisch gemessen, abgerechnet und übertragen werden. Es ist die Basis für neue energiewirtschaftliche Prozesse, wie zum Beispiel das Bilanzkreismanagement.
Künftig können so auch flexible Tarife angeboten werden. Das heißt, ein Haushalt, der gezielt dann Strom nutzt, wenn viel produziert wird, kann seine Stromkosten senken. Das fördert ein energiebewusstes Verhalten und ist der Einstieg in eine integrierte und variable Abrechnung.
Die Beispiele zeigen, welche einflussreiche und gestaltende Rolle der Energieversorgung in der städtischen Entwicklung zukommt. Ihr Einfluss reicht weit über die Strom- und die Wärmeversorgung hinaus, bis in die Finanz- und Mobilitätsstrukturen hinein. Die derzeit entstehenden ökologischen Musterquartiere wie das Esslinger Quartier Lok.West sind mit ihrem intelligenten Energiekonzept eine tragende Säule künftigen Wohnens.
Florian Henle ist Mitgründer und Geschäftsführer des Ökoenergieversorgers und Mieterstrom-Dienstleisters Polarstern.
Technik | Energie, 01.03.2019
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2019 - Time to eat the dog erschienen.
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