Erde 5.0
Die Zukunft provozieren
Klimawandel, Ressourcenvergeudung, Überbevölkerung, Hunger, Armut, tiefe soziale Ungleichheit – der Zustand des Planeten und seiner Ökosysteme ist denkbar schlecht. Die Zukunftsaussichten der Menschheit insgesamt sind düster. Mit Hilfe der Digitalisierung lassen sich die gravierenden Probleme der Welt jetzt angehen.
Bei dieser Frage vermischen sich ernsthafte Wissenschaft und Science-Fiction. Die Menschen sind von weitreichenden Expeditionen ins All, geschweige denn von der Besiedlung anderer Welten, noch weit entfernt. In der kurzen Zeitspanne, die wahrscheinlich bleibt, bis die Biosphäre der Erde ins Chaos stürzt, erscheint intergalaktischer Kolonialismus nicht als ernsthafte Option.
Gleichwohl verbrauchen die Menschen – in Industriestaaten durch ihren Konsumrausch, in den Entwicklungsländern durch ihren Nachholbedarf – mehr Ressourcen, als die Natur erneuern kann.
Der WWF warnt regelmäßig: Eigentlich bräuchten wir einen zweiten Planeten. Würde jeder Mensch auf der Erde soviel konsumieren wie wir Deutschen, wäre sogar ein dritter Planet vonnöten. Und die US-Amerikaner benehmen sich so, als hätten sie gleich fünf Erden zur Verfügung. Gleichzeitig verhungern nach wie vor hunderte Millionen Menschen jedes Jahr. Der Klimawandel bedroht die ohnehin begrenzten Möglichkeiten, im Afrika südlich der Sahara Lebensmittel zu produzieren. Die Wasserversorgung ist in vielen Gebieten schlecht, die Qualität des Wassers erbärmlich. Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 nimmt die Ungleichheit auf der Welt nicht etwa ab, sondern in solchem Ausmaß zu, dass selbst der Internationale Währungsfond (IWF), einer der Gralshüter des Kapitalismus, vor den Auswirkungen warnt. Armut bleibt eines der Hauptprobleme der Welt.
Die gefeierten Klimaziele von Paris sind bereits wieder obsolet. Der jüngste Klimagipfel in Kattowitz hat das – trotz des optimistischen Schlussdokuments – mehr als deutlich gemacht. Nicht einmal Deutschland, das sich lange für seine Energiewende feiern ließ, erreicht seine eigenen Vorgaben. Und solange ein bevölkerungsreiches Land wie Indien darauf setzt, hunderte Millionen Menschen mit Hilfe der Stromerzeugung durch Steinkohle aus der Armut zu führen, lässt sich der Ausstoß schädlicher Klimagase auch nicht reduzieren.
Der zweite Planet ist digital
Die Menschheit braucht einen neuen Plan, ein Konzept, um wirklich durchschlagende Wendungen zum Guten zu erreichen. Sie muss sich selbst wieder in die „Grenzen des Wachstums" verweisen, die der Club of Rome bereits Anfang der 1970er-Jahre aufzeigte. Und diesen Plan gibt es. Ich nenne ihn „Erde 5.0". Der zweite Planet liegt nicht draußen im All, sondern zu unseren Füßen. Der zweite Planet ist digital.
Die Digitalisierung ist der Schlüssel zu einer lebenswerten Zukunft für bald schon elf oder mehr Milliarden Menschen auf der Welt. Sie ermöglicht ein sozial und wirtschaftlich gerechteres Miteinander und reduziert den Verbrauch an Ressourcen deutlich.
Wir erleben derzeit, wie der exponentielle Faktor der Digitalisierung greift und sich ein neuer Chancenraum eröffnet. Eine Innovation folgt auf die nächste, nicht nur in der digitalen Welt, sondern auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen und in der Grundlagenforschung. Künstliche Intelligenz durchdringt mehr und mehr alle Systeme, sorgt für Voraussicht und Effizienz. Die Blockchain bringt Sicherheit und Vertrauen in die Netze und in die Transaktionen. Mit dem Internet der Dinge (IoT), das in Wahrheit eher ein „Internet der Services" ist, entsteht ein engmaschiges Geflecht, das potentiell allen Menschen Zugang zu Information, Bildung, Kapital, Medizin und Produktionsmitteln geben kann. Das IoT ist die neue Infrastruktur des Wohlstands.
Beginn der 5.0-Zeit
In vielen staatlichen Entwicklungsvorhaben und großen wie kleinen Nicht-Regierung-Organisationen (NGOs) kommen diese Technologien bereits zum Einsatz. In großartigen Projekten wird evaluiert und gezeigt, wie der Regenwald geschützt werden kann, wie sich die landwirtschaftliche Produktion in der Dritten Welt steigern und verbessern lässt, wie Gesundheitsdienstleistungen selbst in entlegenste Gegenden gelangen und wie der Bildungsstandard erhöht werden kann. Aber die wesentlichen Zusammenhänge in der digitalisierten Welt werden geflissentlich übersehen oder sogar negiert.
Dabei besteht kein Zweifel:
- Was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert.
- Was vernetzt werden kann, wird vernetzt.
- Was automatisiert werden kann, wird automatisiert.
Längst gleiten wir in die fünfte industrielle Revolution. Sie wird gekennzeichnet durch cyberphysische Systeme und das Internet der Dinge (IoT). Beide Technologien erlauben nicht nur datenbasierte, automatisierte und KI-gesteuerte Prozesse, Routinen und Services, sondern heben letztlich auch die Schnittstelle zwischen der künstlichen und biologischen Sphäre auf. Die barrierefreie, symbiotische Kollaboration zwischen Mensch und Maschine wird möglich. Aber dieses Miteinander wird letztlich nicht lange überdauern. Die Maschinen und die von ihnen gebildeten Netze streben zur Autonomie. Der Mensch spielt in diesen Systemen künftig keine Rolle mehr; das ist der Qualitätssprung zu 5.0.
Anders gesagt: Im Zuge der Digitalisierung werden nicht nur die Zugänge zu den Wohlstandsfaktoren demokratisiert, sondern es kommt auch zu einem Effekt, der in den gesellschaftlichen Debatten noch außen vor bleibt: Dematerialisierung.
Megatrend Dematerialisierung
Produkt für Produkt verwandelt sich in Software. Und mit jedem physischen Produkt, das in Bits und Bytes übergeht, verschwinden Fabriken, Maschinen, Arbeitsplätze. In Deutschland schließen tausende Bankfilialen, und in der Automobilindustrie stehen zigtausende Jobs auf der Kippe. Das ist „Dematerialisierung live". Durch den Trend zur Share Economy werden solche Effekte noch weiter verstärkt. Wenn Teilen das neue Haben ist, werden weniger Konsumgüter produziert. Die Dematerialisierung sorgt dafür, dass der alte Traum der Umweltschutzbewegung, nämlich eine Reduzierung der Stoffströme um Faktoren und nicht um ein paar Prozent, endlich Wirklichkeit wird. Zum Gesamtbild gehört aber auch: Wenn Roboter sich ihre eigenen Maschinen bauen, künstliche Intelligenzen Software schreiben und die Produktionssysteme der Zukunft vollautomatisiert laufen, dann verschwindet ein Großteil der heutigen Arbeitsplätze. Neue werden – zum Beispiel in den Entwicklungsländern – gar nicht erst entstehen.
Ein Update für den Kapitalismus
Leider sind alle Staaten und auch die internationalen Organisationen auf diesem Auge noch völlig blind. Das gilt auch für die Vereinten Nationen (UN), die mit den Sustainable Development Goals (SDG) ein ambitioniertes Entwicklungsprogramm aufgelegt haben. Bis 2030 wollen sie Hunger und Armut besiegen, den Gesundheits- und Bildungsstandard der Menschen deutlich steigern, für Arbeit und zunehmenden Wohlstand in den Entwicklungsländern sorgen, die Ungleichheit bekämpfen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen durchsetzen. Einmal abgesehen davon, dass diese Ziele in nur elf bis zwölf Jahren überhaupt nicht zu erreichen sein werden, negieren sie die oben beschriebenen Paradigmenwechsel der digitalen Revolution. Die Grundannahmen der SDGs – Wirtschaftswachstum und deutlich mehr Arbeit – werden nicht eintreten. Die auch „Agenda 2030" genannte Initiative ist zum Scheitern verurteilt. Statt ständig gut gemeinte, aber leere Versprechungen zu Jobs und Wohlstand abzugeben, müssen – im internationalen Verbund wie national – neue gesellschaftliche Konsense gefunden und Visionen für das Zusammenleben entwickelt werden. Der Kapitalismus, so er denn überleben soll und will, braucht ein Update.
Die Wirtschaft muss ihre Zielsysteme verändern. An die Stelle des „Shareholder Value" tritt der Total Societal Impact (TSI), der den positiven Wertbeitrag eines Unternehmens zur Gesellschaft misst. Und damit nicht genug: Dieser betriebswirtschaftliche Wert fordert eine Entsprechung auf volkswirtschaftlicher Ebene. Das „Bruttoinlandsprodukt" als Maßeinheit ist immer weniger geeignet, um die wahre Leistung einer Ökonomie zu beschreiben. Das BIP misst einfach nicht die sozialen und ökologischen Effekte der Wirtschaftsleistung. Es ist deshalb zu begrüßen, wenn sich sogar das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos als Plattform anbietet, um neue Standards für eine ökosoziale Marktwirtschaft zu definieren. Glücklicherweise ist das bedingungslose Grundeinkommen sowohl in den Entwicklungsländern als auch in den wohlhabenden Industriestaaten zu einer ernstzunehmenden Alternative zu abhängiger Beschäftigung sowie Lohn und Gehalt gereift.
Das Energie-Gambit
Allerdings – das darf nicht verschwiegen werden – wirft diese Vision einer digital optimierten und dicht vernetzten Welt ein Problem auf: Durch ihren immensen Energiehunger forcieren die Systeme und Netze den Ausstoß klimaschädlicher Gase, bevor sie dazu beitragen, den Energieverbrauch drastisch zu senken.
Anders gesagt: Die Digitalisierung verschärft zunächst die ökologische Krise, die sich in Erderwärmung und Klimawandel manifestiert. Dennoch stellt sie den entscheidenden Hebel dar, um die Energie- und Klimakatastrophe zu vermeiden.
Der Digitalphilosoph Luciano Floridi spricht in diesem Kontext von einem „Gambit", einer Strategie im Schachspiel, bei der ein Spieler einen Bauern opfert, um später einen Vorteil zu erreichen. Das Potenzial der Digitalisierung, um dieses Dilemma aufzulösen, ist enorm. Die Global e-Sustainability Initiative (GeSI) geht in ihrer Studie „Smarter2030" davon aus, dass die CO2-Emissionen durch den strategischen Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologien bis zum Ende des kommenden Jahrzehnts um 20 Prozent und damit auf das Niveau von 2015 gesenkt werden könnten. Ist der Optimismus berechtigt? Durchaus. Neue Technologien wie die Blockchain und Künstliche Intelligenz verbessern die Energieeffizienz deutlich.
Google hat schon vor zwei Jahren begonnen, die Energieeffizienz seiner Datencenter mit Hilfe der KI seiner Schwesterfirma DeepMind zu verbessern. Die KI sorgte dafür, dass die Server nicht rund um die Uhr voll gekühlt werden, sondern nur gemäß ihrer zu erwartenden Auslastung. Dahinter steckt eine Analyse- und Prognoseleistung, die nur KI sichern kann. Allerdings setzte die KI lediglich von den Google-Experten vorgegebene Steuerungsroutinen in Gang. Diesen „menschlichen Faktor" hat Google mittlerweile ausgeschaltet. Seit diesem Jahr optimiert die KI den Stromverbrauch der Datencenter vollautomatisch, macht sich ihren eigenen Reim auf Auslastung, zu erwartendem Datenverkehr, Stromeinsatz, Kühlung und Wetter. Im Schnitt sei der Stromverbrauch der Datencenter nach wenigen Monaten um 30 Prozent gesunken.
Mit Hilfe der Blockchain lassen sich zudem dezentrale Energienetzwerke organisieren, in denen kleine, auch private Betreiber von Wind- und Sonnenenergieanlagen effizient zusammenarbeiten können. Apropos Sonnenenergie: Es erscheint vielversprechend, die alte Idee der zunächst spektakulär gescheiterten Initiative „Desertec" in Nordafrika wieder aufleben zu lassen. Das Potenzial ist enorm: Die Sonne schickt im Jahr 1,6 Milliarden Terrawattstunden (TWh) Energie zur Erde. Wenn wir davon ein Zehntausendstel in Strom umwandeln könnten, wäre der Strombedarf der Erde in Höhe von knapp 22 000 TWh im Jahr 2017 (Quelle: Enerdata) erst einmal gedeckt. Wie die Vision doch noch Realität werden kann, zeigen bereits diverse Projekte. In Marokko entsteht „Noor", eines der größten Sonnenkraftwerke der Welt und damit gleichzeitig ein Testlabor für die innovative Nutzung von Sonnenenergie. Ägypten möchte den Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtbedarf von jetzt zehn Prozent auf 20 Prozent in drei Jahren steigern. Die Solarkraftwerke der nahen Zukunft produzieren genauso viel Strom wie manches Atomkraftwerk. Sie liefern die Energie für die wachsende Bevölkerung, für den wirtschaftlichen Aufschwung Afrikas, für die Entsalzung von Meerwasser – und für den Export.
Diese Beispiele zeigen: Technologie wird das Energiedilemma einer digitalisierten und vernetzten Welt lösen helfen.
Die Zukunft provozieren
Wir müssen diese digitale Zukunft mutig gestalten, wenn wir sie möchten. Aber bleibt uns überhaupt eine Wahl, wenn wir die Ökosysteme retten und den Menschen auf einem überbevölkerten Planeten ein gutes Leben ermöglichen möchten? Haben wir nicht die Pflicht, nach 200 Jahren Kapitalismus, Raubbau und menschlichen wie sozialen Katastrophen das Ruder umzulegen? Einfach wird es nicht, angesichts der globalen Kriege und Bürgerkriege, der Lautstärke von Populisten und Despoten, die gesellschaftlichen Fortschritt stoppen und sogar zurückdrehen. Aber es ist möglich. Erde 5.0 ist deshalb nicht nur ein Buch, sondern Ausgangspunkt einer Initiative, um die Digitalisierung und den technologischen Fortschritt gezielt für eine gerechtere, lebenswerte, zukunftsfähige Welt zu nutzen. Im Superwahljahr 2019 sei hinzugefügt: Der Ansatz, die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Teilhabe durch Technologie zu fördern, soll ausdrücklich auch als Strategie gegen Populismus, Protektionismus und die grassierende Rücksichtslosigkeit gegenüber Mensch und Natur verstanden werden.
„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster", sagte schon in den 1930er-Jahren der italienische Philosoph Antonio Gramsci. Wie damals, als der Faschismus in Europa die Oberhand gewann, befinden wir uns wieder in einer gefährlichen, ambivalenten Übergangsphase, in der egozentrische, machtgierige und unberechenbare Autokraten den Ton angeben. Menschen, die nicht mehr zwischen „Fake-News" und Fakten unterscheiden, werden anfällig für die Trumps, Le Pens und AfDs dieser Welt. „Erde 5.0" ist deshalb auch ein Weckruf für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, jetzt eine durch und durch digitale, aber von Menschlichkeit, Verantwortungsbewusstsein und Demut vor der Natur geprägte Zukunft zu provozieren.
Gesellschaft | Globalisierung, 01.03.2019
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2019 - Time to eat the dog erschienen.
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