Die E-roberung der letzten Meile
Eindrücke aus einer Stadt mit Elektro-Scootern
forum-Leser Martin Görlitz gibt seit 1995 mit seiner gleichnamigen Stiftung Impulse für nachhaltiges Handeln und Wirtschaften. Erst kürzlich war er in Lissabon. Nun berichtet in seinem Leserbrief, wie eine Flut von E-Rollern ihn um das schöne Stadtbild beraubte.
Vor ein paar Tagen war ich wieder einmal in Lissabon. Ich liebe diese Stadt, sie ist europäisch, lebhaft, alt und zugleich in einer Aufbruchsstimmung. Nach dem Ende der jahrzehntelangen Mietpreisdeckelung konnte Lissabon buchstäblich aus den Ruinen auferstehen. Heute ist der größte Teil der Altstadt saniert, überwiegend in der historischen Substanz, nicht durch Abriss und möglicherweise hässlichen Neubau.

Wozu braucht man diese Elektroroller? Es gibt in der Beschreibung von Versorgungssystemen den Begriff der „letzten Meile". Beim Strom oder Telefon ist das der Hausanschluss. Beim Mobiltelefon ist es die lokale Funkzelle. Bei der Mobilität sollten es die eigenen Beine sein, dafür sind die nämlich da. Mit den eigenen Beinen kann man prima die letzten Meter gehen, vom Auto in den Supermarkt, aber auch vom Bus oder von der Tram in die Altstadt oder am Flussufer entlang.
Unsere Gesellschaft ist längst wirtschaftlich hinreichend erschlossen. Nun soll auch diese letzte Meile, die ursächliche Aufgabe der Beine, noch umfassend vermarktet werden. Ich nenne das E-Roberung, das E für Elektro und im Rest steckt das englische robbery drin für Raub. In Lissabon fühlte ich mich über die Maßen optisch belästigt und des schönen Stadtbildes beraubt. Auslöser ist die mobilgemachte Digitalisierung, sie ermöglicht solche Geschäftsmodelle. Die überall stehenden Roller haben GPS und eine Internetverbindung, sie tragen auf dem Lenker einen QR Code und lassen sich per Handy-App freischalten. Ein Klick, draufsteigen, los. Das kostet am Beispiel Lissabon einen Euro Grundgebühr plus 15 Cent die Minute, genaue Abrechnung zugesichert. Es gibt keine Ladestationen, man stellt den Roller einfach irgendwo ab, deaktiviert ihn, und fertig. Weil die Benutzung, auch wenn sie noch so günstig ist, nach Zeit abgerechnet wird, deponiert man natürlich das Ding baldmöglichst und ohne langes Zögern, wenn das gewünschte Fahrziel erreicht ist. Eben „irgendwo", gedankenlos. Und das sind selbstverständlich die prominentesten Ecken an einer Straße, an einem Park, oder mittendrin und mittendrauf.

Ursache ist zunächst der harmlose Beschluss einer Stadt, diese Mikro-E-Mobilität für die „letzte Meile" zuzulassen. Im Falle Lissabon haben sich dann acht Unternehmen entschlossen, von Startups bis zu Uber. Auch die Daimler-Tochter Mytaxi ist unter der Marke „live" dabei. Die US-Firmen lime und bird sind Teil der Szene, die viele Millionen an Venture-Capital in diesen neuen Markt pumpt. Und so entsteht dann eine regelrechte Investitions-Spirale, im Grunde eine Blase. Jedes teilnehmende Unternehmen möchte natürlich in einer Stadt wie hier am Beispiel Lissabon den Markt beherrschen. Dazu muss man tausende von Scootern in das Stadtbild stellen, mehr als die anderen Anbieter, besser verteilt, präsenter für den möglichen Kunden. Wie eine biblische Plage stehen sie also überall herum, stets bereit, getreten zu werden. Was für ein Dasein!
Bei meiner Wanderung durch Lissabon traf ich zu allem Überfluss auf eine Werbeveranstaltung für Elektromobilität, vor allem natürlich für E-Scooter. Symbolträchtig mitten auf der Av. de Liberdade, großräumig abgesperrt und mit viel Polizeischutz. Das Motto (siehe Foto) der Werbefahnen war „a rua é sua" – das ist vermutlich kein Bayerisch, sondern will sagen: Die Straße gehört Dir. Eine wunderbare Botschaft. Nur die Autos und die Elektroroller müssten weg. Ich habe dann dazu die Polizisten befragt, und die einhellige Meinung war: Die E-Scooter sind eine komplette Plage, nicht nur im Stadtbild, sondern natürlich durch die Gefährdung im Straßenverkehr. Und tatsächlich sieht man zwar wenige der Dinger wirklich in Bewegung, dies aber durchaus mitten im rollenden Verkehr der Altstadt, ohne irgendeinen Schutz der Person und meist auch ohne Einhaltung einer Fahrspur.

Mein Entschluss lautet jedenfalls: Wenn ich in Zukunft eine Stadt besuchen will, dann werde ich vorher klären, ob mich dort diese Plage erwartet. Und wenn ja, dann fahre ich woanders hin.
Kontakt: Martin Görlitz, ISSO institute for social & sustainable oikonomics | info@isso.de | www.isso.de
Technik | Mobilität & Transport, 11.06.2019

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