Vom Konjunktur- zum Transformationspaket:
Offener Brief für ein Neues Wirtschaftswunder
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Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Bundesministerinnen und Bundesminister,
sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
die Corona-Krise und die daraus resultierenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen erschüttern in diesen Tagen unsere Welt. Das Ende der Pandemie ist noch nicht absehbar. Durch das notwendige Herunterfahren der Wirtschaft sind Millionen Menschen in ihrer Existenz bedroht. Weltweit setzen Regierungen und Zentralbanken auf Stabilisierungsprogramme, die vom Umfang her die Reaktionen auf die Finanzkrise 2008 weit übertreffen. Auch die Bundesregierung will durch entschlossenes Eingreifen die Bevölkerung und Wirtschaft vor den Auswirkungen der gesundheitspolitischen notwendigen Maßnahmen bestmöglich schützen. Ein erster Schritt ist der am 28.03.2020 in Kraft getretene Wirtschaftsstabilisierungsfonds. Konjunkturmaßnahmen historischen Ausmaßes werden folgen.
Die Gesundheit der Menschen und die kurzfristige Unterstützung von Arbeitnehmer:innen und Unternehmen stehen aktuell zu Recht ganz oben auf der Agenda. Zugleich gilt es, die langfristigen Zukunftsherausforderungen nicht aus den Augen zu verlieren, die letztlich heute schon Realität sind. So trifft die Krise Deutschland, Europa und die Welt zu einem Zeitpunkt, zu dem ohnehin eine Vielzahl nie da gewesener Herausforderungen zu lösen sind: die Klimakrise, das Artensterben, zunehmende Fluchtbewegungen, ein instabiles Finanzsystem und festgefahrene Volkswirtschaften, die für Krisen dieses Ausmaßes nicht gerüstet sind. Alle Bereiche erfordern massive Investitionen und den Gestaltungswillen, die notwendigen strukturellen Veränderungen entschlossen anzugehen.
Unbeeindruckt von parallel auftretenden Herausforderungen verschärft sich insbesondere die Klimakrise. Bisherige Klimaschutzmaßnahmen brachten nicht den gewünschten Erfolg. Gutachten des Bundeswirtschafts- und des Bundesumweltministeriums kamen nun zu dem Ergebnis, dass das Klimaschutzprogramm 2030 nicht ausreichen wird, um das Emissionsminderungsziel der Bundesregierung von 55% bis 2030 im Vergleich zu 1990 zu erreichen (Treibhausgasminderungswirkung des Klimaschutzprogramms 2030 - Kurzbericht, Umweltbundesamt; März 2020; Energiewirtschaftliche Projektionen und Folgeabschätzungen 2030/2050; i.A. des BMWi, 10.03.2020).
Erst im Januar erkannten Sie, Frau Dr. Merkel, an, dass "Transformationen von gigantischem historischem Ausmaß” notwendig seien, um die völkerrechtlich verbindlichen Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen (Deutsche Welle, 23.01.2020); also die globale Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter 2 °C zu begrenzen und weitere Anstrengungen zu unternehmen, die Erwärmung auf 1,5 °C zu beschränken. Gleichzeitig war seit Beginn der Aufzeichnungen der CO2-Gehalt in der Atmosphäre nie größer, waren die jährlichen Durchschnittstemperaturen nie höher und die Ozeane nie wärmer als in den vergangenen Jahren (State of the Global Climate, WMO, 2019). Konsequenzen wie regionale Konflikte, Wasserknappheit oder Ernteausfälle sind auch in Deutschland bereits deutlich spürbar. Unsere Lebensweise nimmt uns die Existenzgrundlage. Das haben die meisten Bürger:innen längst verstanden. Die Transformation der Wirtschaft für die nötige Klimawende kann auf einen großen gesellschaftlichen Rückhalt zählen (Umweltbewusstseinsstudie, 2018).
Der weltweite Rückgang der CO2-Emissionen durch den derzeitigen einschneidenden Shutdown zeigt den unmittelbaren Zusammenhang der Wirtschaftsaktivität führender Industrienationen und dem Weltklima. Es gilt, den Wiederaufbau der Wirtschaft als einmalige Chance zu ihrer Modernisierung und ihrem sozial-ökologischen Umbau zu begreifen.
Aus der Finanzkrise 2008 lernen
Wichtig ist, dass wir aus den Fehlern der letzten Wirtschaftskrise lernen. So sind nach der Finanzkrise 2008 die CO2-Emissionen stärker gestiegen, als sie krisenbedingt zunächst gesunken waren (Global Carbon Project, 2018). Dazu haben auch die beschlossenen Maßnahmen und die grundsätzliche Ausgestaltung der staatlichen Interventionen beigetragen.
Eine 2009 vom WWF in Auftrag gegebene Studie überprüfte die deutschen Konjunkturpakete nach der Finanzkrise auf ihre ökologische Wirkung. Lediglich 13% der über 80 Milliarden Euro wurden für Maßnahmen vorgesehen, die als ökologisch nachhaltig angesehen werden können, wie etwa die energetische Sanierung von Gebäuden. Dem standen 8% der Finanzmittel gegenüber, die für klar ökologisch kontraproduktive Maßnahmen eingesetzt wurden, wie etwa die sogenannte Abwrackprämie. Insgesamt fehlten bei vielen Maßnahmen klare Vorgaben bezüglich Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Besonders nachteilig war die Dominanz kurzfristiger Stimulationsmaßnahmen bei fast vollständig fehlenden Impulsen für den langfristig notwendigen Strukturwandel (Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft, 2009).
Die Finanzhilfen und Konjunkturpakete müssen einen wirtschaftlichen Neustart anschieben und die Weichen für die notwendige Transformation im Sinne einer zukunftsfähigen Entwicklung innerhalb der planetaren Grenzen stellen. Dieses Mal gilt es einen sozial-ökologischen Aufschwung zu gestalten – einen Aufschwung, der eine den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angemessene Form des Wirtschaftens ermöglicht. Klimaschutz wird dabei Treiber eines neuen Wirtschaftswunders im Sinne eines grünen Marshallplans (Greenpeace) sein. Jetzt ist die Chance zum Aufbau einer Gemeinwohl-Ökonomie. Andernfalls werden alte Strukturen weiter zementiert, die nicht zukunftsfähig sind. Jetzt gilt es, die Krisen zusammen zu denken und gemeinsam anzugehen!
Vom Konjunktur- zum Transformationspaket
Oberste Priorität hat die Eindämmung der Pandemie. Wegen der Ausgangssperren sind große Teile der Wirtschaft im künstlichen Koma. Diese Beschränkungen eröffnen einen Zeitraum, ein konsistentes, auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Transformationspaket zu erarbeiten (Makronom, 2020). Hierfür gilt es, jetzt die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und Kriterien für eine Investitionsförderung festzulegen. Diese sollten sich erstrangig am Pariser Abkommen und an den Sustainable Development Goals (SDGs) orientieren. Dabei gilt es, sich dem Zielkonflikt zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum zu stellen. Die konsequente Ausrichtung an diesen Kriterien ist die notwendige Bedingung dafür, dass aus einem Konjunkturpaket ein zukunftsweisendes Transformationspaket wird.
Ein Transformationspaket muss sich auf sieben Kernstrategien konzentrieren:
- Drastische Reduzierung der CO2e-Emissionen (d.i. Kohlendioxidäquivalente). Es ist entscheidend, die 1,5-Grad-Marke einzuhalten und das entsprechende CO2-Budget nicht zu sprengen. Ein Wiederanstieg (Rebound) der Emissionen muss verhindert werden! Nach aktuellen Prognosen ist das weltweite CO2e-Budget in 8 Jahren aufgebraucht (MCC, 2018). Bei der Budgetberechnung muss eine faire weltweite Verteilung entlang von Bevölkerungszahlen zugrunde gelegt werden.
- Einführung alternativer Zielindikatoren zur Wohlstandsmessung anstelle des Bruttoinlandsprodukts. Es ist inzwischen weithin anerkannt, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) minimale Aufklärung über menschliches und ökologisches Wohlergehen bietet. Im Gegenteil, jede Ausbeutung natürlicher Ressourcen erhöht das BIP, während regenerative, nachhaltige Wertschöpfung stark unterbewertet ist. Demnach darf sich Erfolg oder Misserfolg eines Transformationspakets nicht am BIP messen. Stattdessen bietet sich z.B. der Sustainable Development Index (SDI) oder die demokratische Komposition eines Gemeinwohl-Produkts an.
- Klimafreundliche Staatsfinanzen. Der Staat hat eine Vorbildfunktion. Daher sollten öffentliche Ausschreibungen, das öffentliche Vergabewesen und die Anlage von Sondervermögen (z.B. Pensionsfonds) Nachhaltigkeitskriterien unterliegen, die zu fossilfreien und emissionssparenden Lösungen führen. Die Definition und Einhaltung solcher Kriterien könnten z.B. dauerhaft beim "Beirat für Sustainable Finance” gebündelt werden.
- Öffentliche Infrastrukturausgaben primär in öffentliche, nachhaltige Projekte. Dadurch können zehntausende, gut bezahlte Arbeitsstellen in kohlenstoffarme Mobilität, Umbau der Straßenverkehrsinfrastruktur (z.B. Prioritätenverschiebung hin zum Umweltverbund aus Bahn-, Bus-, Rad- und Fußverkehr, Elektrifizierung, Energiegewinnung), Erneuerbaren Energien, kommunalen Wohnungsbau und energetischer Sanierung entstehen. Erwirtschaftete Gewinne bleiben damit in der öffentlichen Hand.
- Klima-, Sozial- und Gemeinwohlkriterien als Voraussetzung für die Vergabe von Subventionen, Transfers und Kreditvergabe an die Privatwirtschaft. Instrumente wie die Gemeinwohl-Bilanz oder der Deutsche Nachhaltigkeitskodex (aktuelle oder zukünftige Erstellung) eignen sich als Konditionalität für Krisenhilfen an Unternehmen. Bei Investitionen können die Grundsätze der UN für verantwortliches Investieren (UNPRI) oder der Umwelt- und Ethikbanken für faires, nachhaltiges und ökologisches Wirtschaften herangezogen werden. Alle direkten und indirekten umweltschädlichen Subventionen in den Bereichen Energiebereitstellung und -nutzung, Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sowie Land- und Forstwirtschaft und Fischerei müssen mit Beginn im Jahr 2020 und bis spätestens 2025 abgeschafft werden.
- Übergeordnete Stellung sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Ausgleichs. Bei der ökologischen Transformation müssen Bevölkerungsgruppen, die besonders stark betroffen sind, unterstützt werden. Gleichermaßen verdienen systemrelevante Berufe insbesondere in Gesundheit, Lebensmittelversorgung, Daseinsvorsorge und Sicherheit eine neue Wertschätzung. Dies muss sich in verbesserten, gleichberechtigten Löhnen und Arbeitsbedingungen widerspiegeln. Besonderes Augenmerk muss dabei Frauen gelten. Diese tragen oftmals nicht nur eine Mehrfachbelastung durch Familie, Beruf und Pflege, sondern bilden auch die Größte Gruppe im sozialen Sektor.
- Aufbau eines 100% erneuerbaren Energiesystems. Das derzeitige Energiesystem ist der Hauptverursacher der deutschen und weltweiten Treibhausgasemissionen. Eine schnelle Umstellung des Energiesystems in allen Sektoren ist somit essenziell und dank technologischer Reife und kostengünstiger Preise längst möglich.
Transparenz, Beteiligung und internationale Zusammenarbeit
Bei der Entwicklung des Transformationspakets muss die Bewertung der eingebrachten Maßnahmen, die Verabschiedung eines Maßnahmenkatalogs und dessen Einhaltung bei der Umsetzung unbedingt unter Beteiligung paritätisch besetzter Gremien erfolgen. Dabei sind insbesondere Sozial-, Berufs-, Umwelt-, Klimaverbände und Gewerkschaften u.a. einzubeziehen. Die Wahrung von Pluralismus und Transparenz hat dabei Priorität, einseitige Einflussnahme ist nicht im Interesse der nachhaltigen Zukunftsfähigkeit der Bundesrepublik.
Selbstverständlich muss eine Abstimmung mit anderen Nationen, insbesondere innerhalb und mit der EU erfolgen. Dies ist unter dem gegeben Zeitdruck zwar nicht einfach, muss aber trotzdem angestrebt werden. Nur so kann sich die Effektivität der Maßnahmen multiplizieren. Hier muss nicht
bei Null angefangen werden; entsprechende Vorschläge zur Gestaltung und Finanzierung liegen unter dem Namen "Green New Deal for Europe” vor. Die Bundesregierung muss eine ambitionierte Ausgestaltung des Green Deals unterstützen, insbesondere im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020. Dabei muss sie allen Versuchen entgegentreten, die Umsetzung des Green Deal zu verwässern oder zu verzögern.
Unser Appell:
Wissen und Konzepte sind reichlich vorhanden. Jetzt gilt es, diese endlich in die Tat umzusetzen. Der gesellschaftliche Rückhalt ist stärker denn je. Die umrissene Strategie soll als Denkanstoß dienen. Ein Transformationspaket ist machbar und überfällig. Es adressiert Fehler aus früheren und schafft Resilienz für künftige Krisen. Die politischen Maßnahmen müssen starke Anreize schaffen, um den ökologischen und sozialen Wandel umzusetzen. Uns muss klar sein: Jedes Zögern in der Klimafrage wird die dramatischen Konsequenzen der Erderwärmung verstärken!
Wir appellieren an Sie als Entscheidungsträger:innen: Nutzen Sie die Solidarität und die Bereitschaft in der Gesellschaft für die Transformation in eine gesündere Wirtschaft und Zukunft. Seien Sie mutig, greifen Sie nicht aus Zeitnot oder Routine auf vermeintlich Altbewährtes zurück. Mit Ihren Entscheidungen stellen Sie die Weichen für unsere gemeinsame Existenzgrundlage. Soziale und technische Innovationen, Klimaschutz und Gemeinwohlorientierung machen Deutschland zukunftsfähig - unter Beteiligung der Bürger:innen und einem immer breiter werdenden zivilgesellschaftlichen Bündnis.
Lassen Sie uns gemeinsam an einer sozial-ökologischen Transformation für ein neues Wirtschaftswunder arbeiten!
Die Erstunterzeichner:innen
Kontakt:
Neues Wirtschaftswunder für eine sozial-ökologische Transformation
offener-brief@neues-wirtschaftswunder.de | www.neues-wirtschaftswunder.de
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Wirtschaft | Verantwortung jetzt!, 21.04.2020
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