Keine sozial-ökologische Wende in Sicht?
Umweltschutz hätte längst mindestens so viel energisches Handeln gebraucht, wie die Bekämpfung der Pandemie selbst
Das Coronavirus führt der Welt bitter die verpassten Chancen einer sozial-ökologischen Wende vor Augen. Warum Umweltschutz längst mindestens so viel energisches Handeln gebraucht hätte, wie die Bekämpfung der Pandemie und weshalb Nachhaltigkeit nicht gelingen will, untersucht eine Forschergruppe um Ingolfur Blühdorn in Wien.
Schon lange vor der Coronakrise zeigte sich: Die Welt befindet sich zunehmend in einem Ausnahmezustand. Brennende Wälder, schmelzende Gletscher, ein rasanter Verlust an Artenvielfalt und Bürgerkriege mit ihren Hundertausenden Flüchtlingen stellen die Menschen vor Folgen, deren volle Auswirkungen noch gar nicht abzusehen sind. Dennoch stieg der globale Verbrauch natürlicher Ressourcen bis zuletzt weiter an ebenso wie die CO2-Emissionen, die Biodiversität nimmt ab, die sozialen Ungleichheiten nehmen zu, und Kämpfe um verbleibende Ressourcen verschärfen sich.
Diesem Paradoxon und Dilemma geht Ingolfur Blühdorn auf sozialwissenschaftlicher Ebene nach. An der Wirtschaftsuniversität Wien sucht der Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) die Antwort auf die Frage, warum die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft bis heute nicht stattgefunden hat. Über diese nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit, wie Blühdorn es nennt, ist soeben ein Buch erschienen, das eine Gegenwartsdiagnose aus umweltsoziologischer Perspektive liefert. Die Erkenntnisse daraus basieren auf jahrelangen Untersuchungen, wie sie derzeit in einem Forschungsprojekt mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF gemacht werden.
Blühdorn und sein Team legen aktuell den Fokus auf das Potenzial von urbanen Experimenten. "Wir beobachten, dass umweltpolitische Interventionen zusehends lokaler und experimenteller geworden sind", berichtet Projektmitarbeiterin Margaret Haderer. Die Forschergruppe interessiert, wie sich dieser Trend erklären lässt und schaut sich dabei zwei verschiedene Zugänge an: solche, die von technologischer Innovation und Wachstum getragen sind - etwa Smart-City-Konzepte - und jene wachsenden Initiativen, die "von unten" aus der Zivilgesellschaft kommen, wie zum Beispiel ökologische Wohnprojekte, Reparatur-Cafés oder FoodCoops (Einkaufsgemeinschaften).
Gesellschaftspolitischer Wille fehlt
Ob die Transformation im Kleinen zur Wende im Großen führen könnte? Das sehen die Forschenden an der Wirtschaftsuniversität skeptisch, wenngleich sie einräumen, dass Veränderungen im kleinen Maßstab zumindest das Potenzial haben, auch größere Transformationen anzustoßen. Dass eine klimapolitische Wende durch grünes Wachstum mittels Technologie vollzogen werden kann, wird von der Wissenschaft allerdings immer mehr bezweifelt. Post-Wachstumsdiskurse wiederum, also kritisches Hinterfragen der kapitalistischen Marktlogik, gab es schon in den 1970er- und 80er-Jahren. Zudem gibt es einen dritten Faktor, der schwer wiegt: "Es gibt in entscheidenden Hinsichten nach wie vor ein gesellschaftspolitisches Beharren auf ein 'Weiter-so-wie-bisher', das vermutlich auch nach der Corona-Krise die zentrale Politik sein wird", betont Politikwissenschaftlerin Haderer. Dass Staaten aber durchaus in der Lage sind, Maßnahmen im Namen eines gemeinsamen Gutes zu setzen, das derzeit die Gesundheit ist, zeigt sich jetzt in der Krise ebenso.
"Die Coronavirus-Krise ruft in Erinnerung, welchen Preis moderne Gesellschaften insbesondere seit Mitte der 1990er-Jahre bezahlt haben, um das Wachstum und die Profitabilität des ökonomischen Systems zu sichern", sagt Projektleiter Ingolfur Blühdorn. Auch nach der Finanz-und Bankenkrise 2008/2009 wurde das System durch staatliche Interventionen gestützt, damals um die Wirtschaft zu retten. Das erforderte eine verschärfte Sparpolitik, die unter anderem die Übernutzung natürlicher Ressourcen massiv vorangetrieben hat.
Regulierung Kernaufgabe der Politik
In der staatlichen Intervention, wie sie die Gesellschaft derzeit in der Corona-Krise erlebt, sieht Blühdorn grundsätzlich eine Chance für mehr Gestaltungswillen in der Zukunft, nicht nur zum Schutz der Wirtschaft, sondern auch zum Schutz der sozialen Sicherheit und ökologischen Nachhaltigkeit. Doch angesichts des extrem begrenzten finanziellen Handlungsspielraums auf Jahre hinaus, dürfte sich das Szenario wiederholen, vermutet der Nachhaltigkeitsforscher, indem sich staatliche Interventionen einmal mehr auf möglichst günstige Bedingungen für die Wirtschaft richten werden und nicht auf die Behebung der sozialen, wohlfahrtsstaatlichen und ökologischen Fehler der marktliberalen Jahrzehnte - obwohl letztere die Voraussetzungen für eine "gesunde" Wirtschaft und soziales Gleichgewicht sind. Regulierungsmaßnahmen seien eine der Kernaufgaben der Politik, bekräftigt Blühdorn. "Die Corona-Krise erinnert uns daran gerade sehr deutlich. Politische Regulierung kann aber nicht eine Frage der wissenschaftlichen oder autokratischen Setzung sein, sondern muss immer demokratisch ausgehandelt werden."
Zu den Personen
Ingolfur Blühdorn ist Professor für soziale Nachhaltigkeit und Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Soziologie, Gesellschaftstheorie, der Wandel moderner Demokratien und umweltpolitische Theorie.
Margaret Haderer ist Politikwissenschaftlerin mit Fokus auf Stadtforschung, Umweltpolitik, politische Theorie und Sozialtheorie. In dem FWF-Projekt "Urbane Experimente für eine sozial-ökologische Transformation" (2018-2022) hat sie eine Postdoc-Stelle inne.
Umwelt | Umweltschutz, 20.04.2020
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