Zusammen aus der Krise und für mehr Mitmenschlichkeit
Internationales "Colloquium 51" aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sieht in Corona-Pandemie historische Chance für einen Neustart
"Das Virus verstärkt die Unsicherheiten und Ungewissheiten einer bereits zuvor aus den Fugen geratenen Weltordnung. Wir erleben die Folgen einer Globalisierung die Maß und Mitte verloren hat. Die großen Gestaltungsaufgaben unserer Zeit, ausgelöst durch den Klimawandel, die weltweite Migration, den grundstürzenden technologischen Wandel - die sind nicht verschwunden. Den tiefen Einschnitt, den die Pandemie ausgelöst hat, sollten wir deshalb als historische Chance sehen. Corona hat die Welt für einen kurzen Moment entschleunigt. Nutzen wir diese Situation um neuen Mut zu Reformen zu zeigen - jetzt den Neuanfang zu wagen", sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner Grußbotschaft zum Start des "Summer of Purpose" in München. Die dreitätige Konferenz wurde binnen kürzester Zeit ins Leben gerufen, um in Zeiten der Corona-Pandemie ein Zeichen für Mitmenschlichkeit zu setzen.

Orientiert an der Leitfrage "Was haben wir in den letzten 100 Tagen gelernt?" kamen heute 51 Vordenker aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport und Kultur im "Colloquium 51" zusammen - unter strikter Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen mit Alltagsmasken, Temperaturmessung und Abstandswahrung. Ein Zeichen des Aufbruchs nach den Wochen der notgedrungenen Distanzierung, die auf der ganzen Welt zu einem Stillstand der Konferenzen und Veranstaltungen führte. Auf diesen Umstand wiesen die bayerische Digitalministerin Judith Gerlach ebenso hin wie Stefan Rummel, Geschäftsführer der Messe München.
Das Veranstaltungsdatum wurde bewusst gewählt, markiert der 26. Juni doch den 75. Jahrestag der Unterzeichnung der UN-Charta. Seinerzeit bekannten sich 51 Nationen zu den Menschenrechten und zum friedlichen Zusammenleben aller Völker. In Gedenken daran trifft sich nun das sogenannte "Colloquium 51", um in der Tradition des damaligen Aktes der Menschlichkeit heute Wirtschaft neu zu denken. Und noch ein weiteres Datum war bei der Planung leitend: Am 1. Juli beginnt die deutsche Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union. Da Deutschland auch die Präsidentin der Europäischen Kommission stellt, wird die Verantwortung Deutschlands noch nie so groß wie jetzt sein.

Um trotz der Pandemie-bedingten Beschränkungen die globale Perspektive in der Diskussion zu ermöglichen, sind über 300 Experten aus der ganzen Welt in den "Summer of Purpose" zugeschaltet. Zu ihnen zählten am heutigen morgen bereits neben Professor Yunus die ehemalige Präsidentin Irlands und ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Prof. Mary Robinson. Yunus erneuerte seinen Aufruf in seinem jüngst veröffentlichten Manifest "No going back - Keinen Schritt zurück", wonach er von den Regierungen dieser Welt ein radikales Umdenken fordert. In einem "Post-Corona-Wiederaufbauprogramm" müsse das soziale und ökologische Bewusstseins als Kern jeder Entscheidungsfindung verankert werden. Niemand solle finanzielle Unterstützung erhalten, sofern nicht gewährleistet sei, dass daraus der größtmögliche soziale und ökologische Nutzen geschöpft werde. Eine Schlüsselrolle käme Unternehmen zu. Auch Robinson hob hervor, dass wir nicht so weitermachen könnten wie bisher. Vor allem die Bedrohungen des Klimawandels müssten viel ernster genommen werden. Jeder Einzelne solle seinen Fleischkonsum reduzieren, aber auch bei den Städten und den Konzernen müsse umgedacht und kreativ neu gedacht werden.
Die Notwendigkeit eines Bewusstseinswandels in den Betrieben erfuhr Zustimmung bei den anwesenden oder zugeschalteten Unternehmenslenkern wie BASF-Vorstand Saori Dubourg, EON-Vorstand Karsten Wildberger, VW-Vorstand Andreas Renschler, Antoine Sire aus dem Management von BNP Paribas und dem ehemaligen BMW-Vorstand Peter Schwarzenbauer. Saori Dubourg sagte: "Wir brauchen dringend ein Umdenken, um eine große Transformation zu befeuern. Trillionen an Kapital sind am Kapitalmarkt und steuern derzeit Profitmaximierung. Stellen Sie sich mal vor: Trillionen an Kapital würden dazu beitragen, dass die Firmen in die Zukunft investieren in Form von Umwelttechnologie und sozialen Werten. Was dann für eine Geschwindigkeit in die richtige Richtung entstehen würde. Und das ist die Vision, an der wir mit der neu gegründeten Value Balancing Alliance" arbeiten. Karsten Wildberger unterstrich: "Die Energiewende kann nur gelingen, wenn wir jede Stadt und jedes Stadtviertel mit grüner Energie erreichen und verbinden." Renschler sagte: "Bei TRATON stehen wir hundertprozentig zu den Pariser Klimazielen. Deshalb investieren wir bis 2025 eine Milliarde Euro in alternative Antriebe. Trotz Krise. Denn die Corona-Evolution kann und muss zur grünen Revolution werden".

Christian Felber, Initiator der Bewegung Gemeinwohl-Ökonomie und Genossenschaft für Gemeinwohl, pflichtete bei und fragte: "Warum gibt es überhaupt noch Firmen, die nicht zum Gemeinwohl beitragen? Das gab es in der Vergangenheit über Jahrhunderte hinweg nicht." Prof. Dieter Frey, Direktor Zentrum für Führung und Personalmanagement Ludwig-Maximilian-Universität München und Prof. Claudia Peus, Vizepräsidentin Technische Universität München, mahnten eine stärkere Orientierung an Werten an. Dies müsse sich bereits in der akademischen Ausbildung zeigen.
Nach einer Analyse des Status quo am ersten Tag werden am zweiten Tag gemeinsam neue Lösungen erarbeitet. Der dritte Tag steht im Zeichen der Ergebnisse und wird von einem Fazit und der Bekanntgabe neuer Allianzen und Gründungen geprägt sein. Am 28. Juni findet zudem der 10. Social Business Day mit der "Golden Hour" als Höhepunkt statt. Es ist zugleich der 80. Geburtstag des Wirtschaftswissenschaftlers und Friedensnobelpreisträgers Professor Muhammad Yunus.
Über drei Tage werden fünf große Sitzungen online übertragen und können kostenlos erlebt werden. Über 1000 Personen haben sich dazu registriert. Auch ohne Registrierung können über die Internetseite www.summerofpurpose.com das Bühnenprogramm und einzelne Workshops kostenfrei live von jedermann verfolgt werden.
Veranstalter Hans Reitz zeigt sich begeistert von den Gesprächen des ersten Tages: "Aus der gegenwärtigen Brisanz und der inspirierenden Konstellation des historischen Kontextes ergibt sich eine einzigartige Dynamik. Wir sind fest entschlossen, von der Messe München ein starkes Signal für Menschlichkeit und ein neues Miteinander in allen Bereichen unserer Gesellschaft zu senden. Je mehr Menschen sich online beteiligen, desto größer ist die soziale Kreativität."
Staatsministerin Judith Gerlach zeigte sich optimistisch: "Vielleicht geht heute ein Ruck von München aus, den wir dringend brauchen."
Gesellschaft | Pioniere & Visionen, 26.06.2020

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