Countdown für Planet B - Leila Dreggers Plädoyer für einen Aufbruch ins utopische Denken
1 - Energierevolution statt Energiewende - Balance statt Macht
„Wenn du ein Schiff bauen willst, dann lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer," sagte Antoine de Saint-Exupéry. Entsprechend können wir sagen: Wenn du den Planeten retten willst, dann zähle nicht nur seine Gefahren auf - sondern zeige den Menschen die Möglichkeiten einer geheilten Erde und einer Menschheit, die tatsächlich in Frieden lebt. Planet B ist eine Utopie, aber kein Märchen: Alles, was hier beschrieben wird, gibt es bereits in Ansätzen.
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1 - Energierevolution statt Energiewende
Balance statt Macht
Wir leben in unglaublicher Energiefülle. Die Sonne scheint in jedem Moment 15.000 mal mehr Energie auf die Erde, als die ganze Menschheit verbraucht. Und doch glauben wir der Illusion des Mangels. Mangel erzeugt Sucht, und wie Süchtige haben wir das Kleid unserer Mutter Erde zerfetzt - den Wald -, ihre Eingeweide herausgerissen - Kohle, Gas und Erdöl - und das Tabu der Atomspaltung gebrochen, um an Energie zu kommen. Aber unser Problem ist nicht Energiemangel, sondern Fantasiemangel. Und wir hängen am Tropf eines Systems, das sich weigert, Energie auf gerechte, nachhaltige, regenerative Weise zu erzeugen und zu verteilen. Das System hat auch gar kein Interesse daran. Denn Energie ist Macht. Und spätestens seit dem Petrodollar - der Verknüpfung von Energie, Geld und Macht - stehen Energie-Monopole im Mittelpunkt eines weltumspannenden Wirtschaftssystems des kompletten Irrsinns.Eine Energiewende allein wird uns da nicht helfen, es braucht schon eine Energierevolution, um das System tatsächlich abzulösen: Statt Konzentration gehört die Energie in die Hände aller.
Das Zauberwort ist dezentrale Energieautonomie.
Sie führt zu einer völlig anderen Organisation des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Schauen wir uns an, wie das aussehen kann. Schauen wir auf Planet B.
Dessen Bewohner haben, wie wir bereits an vielen Beispielen gesehen haben, gelernt, alles Lebendige dankbar zu ehren, so wie es die indigenen Traditionen immer taten. Dazu gehören das Feuer und das Wasser. So wie alle anderen polaren Kräfte - Gefühl und Verstand, Geben und Erhalten, Frau und Mann - sollen auch Feuer und Wasser im Gleichgewicht sein. Verheerende Waldbrände und Überhitzung der Erde, Überschwemmungen und Dürren, Armut, Gewalt und Flucht sind Anzeichen für den Verlust dieses Gleichgewichtes. Wenn in jeder Versammlung auf Planet B eine Wasserschale und eine Kerze in der Mitte stehen, dann ist das nicht in erster Linie eine romantische Geste: Es ist die stetige Erinnerung daran, unsere Grundkräfte zu ehren und in Balance zu halten.
Drei Viertel des „normalen" Energieverbrauchs erübrigen sich auf Planet B durch ein anderes Leben und Wirtschaften. Da sich die B-Bewohner mit dem, was sie zum Leben brauchen, nicht mehr aus Fernost versorgen, sondern in ihrer Region, sinkt die Transport-Energie auf einen Bruchteil. Häuser bauen sie grundsätzlich in intelligenter Solararchitektur, deren Zonen, Nischen, Farbgestaltung und Isolationen einen Großteil von Heizung und Kühlung überflüssig machen. Da B-laner soziale Kontakte jeder Art mögen, wählen sie für ihre Fahrten nie das Auto, sondern immer Bahn oder Bus, sonst ginge ihnen einfach zu viel an Kennenlern- und Gesprächsmöglichkeiten verloren. Ganz zu schweigen davon, dass B-wohnerInnen einfach nicht mehr so viel Zeugs brauchen, um glücklich zu sein - und deshalb auch nicht mehr so viel Energie gebraucht wird, um es herzustellen.
Energie brauchen sie trotzdem. Doch die kommt auf Planet B nicht durch zentrale Energiekonzerne. Sondern sie entsteht dezentral, an 1000en Orten, auf 1000erlei Weise. Alle Energie kommt letztlich aus der Sonne. Ausgerechnet unser Zentralgestirn ist der Garant für dezentrale Energiegewinnung. Denn die Sonne scheint überall, sie treibt den Wasserkreislauf und Winde an, lässt Pflanzen wachsen.
Auf Planet B ist jedes einzelne Haus ein Kraftwerk, das sich zunächst einmal selbst versorgt. Zunächst erzeugt jedes Haus Wärme zum Kochen durch einfache Solarkocher vor der Tür oder bequeme Fixfokus-Solarspiegel und Mini-Biogasanlagen innerhalb des Hauses. Die letzte wird durch Küchen- und Gartenabfälle gespeist und liefert nicht nur Gas zum Kochen, sondern auch wertvollen Flüssigdünger. Diese einfache Technik, die auf dem Prinzip „Kuh-Magen" beruht, wurde übrigens in Slums entwickelt, um Abfälle zu entsorgen. Auch an den Rhythmus des solaren Kochens gewöhnt man sich schnell: Am schnellsten gart das Essen, wenn die Sonne hoch am Himmel steht. Nachts oder bei Regen schaltet man den Herd auf Biogas. Darüber hinaus nutzt jeder Haushalt viele solare Möglichkeiten, um Wasser zu wärmen oder zu kühlen und so Klimaanlagen, Kühlschränke, Heizungen ganz ohne Strom oder Gas zu betreiben.
Regenerative Stromerzeugung gehört ebenfalls zu jedem Haus, sei es durch Wind, Sonne oder Wasser oder andere kreative Möglichkeiten. Die Stromüberschüsse werden ins lokale Netz des Ortes gespeist, und umgekehrt kann ein Haus von dort Energie beziehen, falls es einmal unterversorgt ist. Jedes lokale Stromnetz wird basisdemokratisch von der Gemeinde betrieben. Jeder Haushalt kann sich überlegen, einen Teil seines Einkommens durch mehr Einspeisung zu erwirtschaften.
Jede Gemeinde hat darüber hinaus ein oder mehrere Klein-Kraftwerke, durch die die sozialen Einrichtungen, Krankenhäuser und regionale Industrie versorgt werden. Und hier wird es spannend. Welche Energie passt zu meinem Ort? Ist er mit Sonne gesegnet? Mit Wind? Mit üppigem Pflanzenwachstum? Mit Gezeiten? Gibt es Tiere, die sich über Bewegung freuen und die man vor einen Generator spannt? Oder wählt man eine Mischung aus vielen Dingen?
Jeder Ort versorgt als erstes seine Bewohner und Einrichtungen.
Wenn Überschüsse bleiben, speist er sie ins überregionale Netz ein - das dann andere Orte versorgen kann, die einmal ins Minus geraten. So ist ein solidarisches und krisensicheres System von unten entstanden, mit einem großen Puffer für Krisenzeiten. Die zentrale Energiemacht hat ausgedient. Es gibt keine Energieabhängigkeiten mehr. Kein Land überfällt ein anderes wegen dessen Erdölvorräten, wenn der eigentliche Energieschatz in der Kreativität und Autonomie der Bürger und Bürgerinnen besteht.
Denn Planet B konnte sich darauf verlassen: Als einmal der Energie-Groschen gefallen war, begannen überall Menschen zu basteln und ihrer Kreativität freien Raum zu lassen. Dezentrale Energieautonomie wirkte wie ein Zauberwort. Ein Eifer begann wie zu der Zeit der ersten Flugversuche, ein Goldgräberfieber der freien Energieforschung. Der Ideenreichtum kannte keine Grenzen: Fitnessstudios erließen ihren Mitgliedern die Gebühren, da diese durch ihre Kraftübungen Strom erzeugten, statt verbrauchten. Jugendliche erzeugten Energie durch Seile, die an Baumwipfel gebunden waren und deren Bewegungen in Strom wandelten. Den größten Erfolg hatte man durch Wasser: Wasser, Gefälle und Wärmeunterschiede boten schier unerschöpfliche Energiequellen.
Die vernetzte Dezentralisierung war die Antwort auf die Fülle der Sonnenenergie geworden. Und würde die Menschheit nun, da das Energiemonopol gebrochen war, endlich freie Energie nutzen können - all die Nullpunkt-, Magnet- oder Teslageneratoren, an denen viele schon so lange forschen?
Vielleicht. Aber diese Forschung hat ihre Dringlichkeit und ihr Heilsversprechen verloren. Man hatte aufgehört, auf das große Energiewunder zu warten und hatte Millionen kleine Wunder vollbracht.
Leila Dregger ist Diplom-Agraringenieurin und langjährige Journalistin. Mit den Schwerpunktthemen Frieden, Ökologie, Gemeinschaft, Frauen arbeitet sie seit 25 Jahren für Presse und Rundfunk sowie als Drehbuchautorin und Regisseurin für Theater und Film. Sie war Herausgeberin der Zeitschrift „Die weibliche Stimme – für eine Politik des Herzens", Pressesprecherin des Hauses der Demokratie in Berlin und lebt heute überwiegend in Tamera in Portugal.
www.tamera.org
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Technik | Energie, 25.10.2020
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