Keinen Schritt zurück
Das Post-Corona-Wiederaufbauprogramm
Wo steht unsere Welt und wie geht es mit ihr weiter? Das ist die zentrale Frage, die sich in den ungewissen Zeiten der Corona-Pandemie nicht nur Soziologen, Zukunftsforscher, Philosophen, Politiker und Unternehmenslenker stellen. Es gibt nur wenige Menschen, die in der Lage sind, darauf eine Antwort mit Gewicht zu geben. Der bengalische Wirtschaftswissenschaftler Professor Muhammad Yunus ist einer davon, denn er ist kein trockener Theoretiker, sondern ein Mann der Tat. Mit seiner 1976 gegründeten Grameen Bank hat er über Mikrokredite an die Ärmsten millionenfach menschenwürdige Existenzen ermöglicht. 2006 wurde ihm für sein Lebenswerk der Friedensnobelpreis verliehen. Auch das von ihm entworfene Unternehmensmodell des Social Business hat hunderttausendfach in der Praxis bewiesen, dass es Missstände nachhaltig behebt. Mit seinem vor wenigen Wochen veröffentlichten Manifest „Keinen Schritt zurück (No Going Back)" fordert er von den Regierungen dieser Welt ein radikales Umdenken zu einem sozialen und umweltorientierten Bewusstsein.
Herr Yunus, wie geht es Ihnen in dieser schwierigen Zeit?

Sie werden im Juni diesen Jahres 80 Jahre alt. Ursprünglich wollten Sie Ihren Geburtstag zum Anlass nehmen, um über vier Tage in München mit dem „Super HappYYness Festival" Ihre bislang größte Sozialkonferenz mit vielen Gleichgesinnten, Vordenkern und Zukunftsgestaltern zu feiern. Was ist nun Ihr Plan?
Die Rettung von Leben ist zu Recht zum einzigen Thema auf der ganzen Welt geworden. Diese neue Realität fordert jeden von uns in jedem Augenblick heraus. Aufgrund dieser veränderten Fokussierung haben wir das Festival auf nächstes Jahr verschoben, gleiche Daten, gleicher Ort. Die wütende Pandemie macht dieses Festival umso bedeutungsvoller und dringlicher. Es begeistert mich, zu sehen, wie wir durch den Prozess der Festivalorganisation eine wunderbare Konstellation aus Menschen und Institutionen aufgebaut haben, die bereit und in der Lage sind, ein enormes soziales Bewusstsein freizusetzen, um eine bessere Welt für morgen zu schaffen.
Was glauben Sie, wird die Pandemie in den Köpfen bewirken?
Noch nie war es so klar wie heute, dass die Vernetzung die ganze Welt in eine kleine Nachbarschaft verwandelt hat. Niemand ist mehr unbekannt, niemand ist zu weit von den anderen entfernt. Wir können niemanden mehr ignorieren, weil wir seine Bedingungen oder Probleme nicht kennen. Wenn wir nichts tun, dann nur wegen unseres Desinteresses. Unser materielles und psychologisches Glück liegt darin, miteinander zu teilen, nicht darin, einander etwas wegzunehmen. Die Pandemie führt zum Zusammenbruch der bestehenden Weltordnung. Auf der positiven Seite sehen wir die große Chance, eine völlig neue sozioökonomische Ordnung aufzubauen. Schließlich hat uns die alte Ordnung in eine Katastrophe geführt.
Was meinen Sie damit?
Bis das Coronavirus die Nachrichten beherrschte, zählten wir buchstäblich die Tage, bis unser ganzer Planet ob der klimatischen Katastrophe die Existenz der Menschen nicht mehr möglich sein lässt. Außerdem droht eine Massenarbeitslosigkeit, weil künstliche Intelligenz die Arbeit für uns übernehmen wird und die Konzentration von Reichtum explosive Ausmaße erreicht. Wir haben uns gegenseitig immer wieder beteuert, dass dieses Jahrzehnt das der letzten Chancen sein wird.
Was also muss getan werden?
Wir sollten uns darauf vorbereiten, das Jahr 2020 als das Jahr der tektonischen Verschiebung in unserem Denken und Handeln zu markieren. Die Erinnerung an 2020 sollte uns den moralischen Treibstoff und den Willen liefern, uns komplett neu zu definieren. Bevor wir aber die Wirtschaft wieder in Gang bringen, müssen wir uns darüber einigen, welche Art von Wirtschaft wir wollen. Wir sollten nicht für einen Moment vergessen, dass sie ein von uns geschaffenes Werkzeug ist. Wir müssen es weiter designen und umgestalten, bis wir das höchste kollektive Glück erreichen. Es geht darum, die richtige Hardware und die richtige Software zu bauen. Die Kraft dazu steckt in uns. Nichts ist für den Menschen unmöglich.
In Ihrem Manifest „Keinen Schritt zurück", über das in vielen Zeitungen weltweit berichtet wurde, schlagen Sie Lösungen zur Bewältigung der massiven globalen Herausforderungen vor. Sie rufen zu einem radikalen Umdenken auf. Bitte erläutern Sie uns Ihre zentralen Ideen und Forderungen.
Der Ausgangspunkt für das Post-Corona-Wiederaufbauprogramm muss sein, das Sozial- und Umweltbewusstsein in den Mittelpunkt aller Entscheidungen zu stellen. Die Regierungen müssen garantieren, dass niemandem auch nur ein einziger Dollar angeboten wird, bis nicht sicher ist, dass diese Maßnahme im Vergleich zu allen anderen Optionen den größtmöglichen sozialen und ökologischen Nutzen für die Gesellschaft bringt. Alle Wiederaufbaumaßnahmen müssen zur Schaffung einer sozial, wirtschaftlich und ökologisch bewussten Wirtschaft für das Land wie auch für die Welt führen.
Wir müssen unsere Pläne gerade jetzt entwerfen, wenn wir uns mitten in der Krise befinden. In diesem umfassenden Wiederaufbauplan schlage ich vor, einer neuen Unternehmensform, dem so genannten Social Business, eine zentrale Rolle einzuräumen. Es wurde einzig und allein zur Lösung der Probleme der Menschen geschaffen, ohne dass die Investoren persönlichen Gewinn erzielen. Wenn die ursprüngliche Investition zurückkommt, werden alle späteren Gewinne wieder in das Unternehmen investiert. Um den Markteintritt von Social Business zu beschleunigen, können Regierungen zentral und lokal Social Business Venture Capital-Fonds einrichten und sie können den privaten Sektor, Stiftungen, Finanzinstitutionen und Investmentfonds dazu animieren, derartige Fonds zu bilden oder traditionelle Unternehmen ermutigen, selbst ein Social Business zu werden oder mit Social Businesses Partnerschaften einzugehen. Die Zentralbank kann es ihnen erlauben – so wie anderen Unternehmen auch –, von Finanzinstitutionen Mittel für Investitionen an der Börse zu erhalten.
Alle Wiederaufbaumaßnahmen müssen zur Schaffung einer sozial, wirtschaftlich und ökologisch bewussten Wirtschaft für das Land wie auch für die Welt führen.
Wer sind die Investoren von Social Businesses? Wo kann man sie finden?
Sie sind überall. Wir sehen sie nicht, weil unsere gängigen Wirtschaftslehrbücher ihre Existenz nicht einmal wahrnehmen. Die Strategie ist, den Anteil der Social Business-Unternehmen an der Gesamtwirtschaft zu erhöhen, wenn die Wirtschaft wieder wächst. Der Erfolg wird sichtbar, wenn immer mehr Gründer sowohl herkömmliche Unternehmen als auch Social Business-Unternehmen betreiben. Das wird der Beginn einer von sozialem und umweltorientiertem Bewusstsein getriebenen Wirtschaft sein.

Sobald die Regierungspolitik anfängt, Social Business-Unternehmer und Social Business-Investoren anzuerkennen, werden sich diese Unternehmer und Investoren mit Begeisterung melden, um die wichtige soziale Rolle zu spielen, die diese historische Chance verlangt. Social Business-Unternehmer sind keine Mitglieder einer kleinen Weltverbesserergemeinschaft. Es handelt sich um ein bedeutendes globales Ökosystem, zu dem riesige multinationale Unternehmen, große Social Business-Fonds, viele talentierte Vorstandsvorsitzende sowie Körperschaften und Stiftungen mit langjähriger Erfahrung in der Finanzierung und Führung globaler und lokaler Social Businesses gehören.
Das Wiederaufbauprogramm muss eine traditionelle Arbeitsteilung zwischen Bürgern und Regierung aufbrechen. Es sollte alle Bürger ermutigen, sich zu melden und ihr Talent als Problemlöser zu zeigen, indem sie Social Businesses gründen. Ihre Stärke liegt nicht in der Größe ihrer Initiativen, sondern in ihrer Anzahl. Jede kleine Initiative multipliziert mit einer großen Zahl entpuppt sich als eine bedeutende nationale Aktion.
Sie haben Ihr Manifest mit persönlichen Briefen an deutsche Spitzenpolitiker geschickt. Was erwarten Sie sich davon?
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass uns eine einfache, einheitliche globale Entscheidung der Regierungen enorm helfen würde: eine klare Weisung, dass wir nicht dorthin zurückkehren dürfen, woher wir gekommen sind. Wir wollen im Zug des Wiederaufbaus nicht vom Regen in die Traufe springen.
Die Regierungen haben viele Möglichkeiten, um Social Businesses zu priorisieren, sie zu ermutigen und ihnen den Raum zu geben, damit sie wichtige Aufgaben im Bereich des Wiederaufbaus übernehmen. Dies wird die Bewährungsprobe für die Führung sein, um zu zeigen, wie eine Welt inspiriert werden kann, auf völlig unbekannte Weise wiedergeboren zu werden. Die Kombination der deutschen EU-Kommissionspräsidentschaft und der im Juli beginnenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft bietet eine enorme Chance, die Zukunft zu gestalten.
Was passiert, wenn die Regierungen nicht auf Sie hören und nur mit den altbekannten Programmen die Wirtschaft wieder angekurbelt werden soll?
Wenn wir damit scheitern, ein von sozialem und umweltorientiertem Bewusstsein getriebenes Post-Corona-Wiederaufbauprogramm in Angriff zu nehmen, steuern wir auf eine Katastrophe zu, die um einiges schlimmer ist als die, die durch das Coronavirus verursacht wurde. Wir können uns in unseren Häusern vor dem Coronavirus verstecken, aber wenn wir die sich verschlechternden globalen Probleme nicht angehen, werden wir keinen Ort auf dieser Welt mehr finden, an dem wir uns vor der wütenden Mutter Natur und den wütenden Massen auf der ganzen Welt verstecken können.
Hinweis: Das Manifest „No Going Back – Keinen Schritt zurück" finden Sie hier in der deutschen und englischen Version.
Gordon Bonnet, Journalist, Jurist und Wirtschaftsmediator, über viele Jahre IHK-Geschäftsführer, arbeitet heute als passionierter Kommunikator in der Geschäftsleitung von circ und für das Grameen Creative Lab.
Gesellschaft | Pioniere & Visionen, 10.06.2020
Dieser Artikel ist in forum 02/2020 - die Corona-Sonderausgabe - Einfach zum Nachdenken... und Handeln erschienen.

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