Countdown für Planet B - Leila Dreggers Plädoyer für einen Aufbruch ins utopische Denken
0 - Die Entscheidung
In zehn Beiträgen haben wir verschiedene Aspekte des erfolgreichen Systemwechsels beleuchtet und gefragt: Wie könnte konkret eine Lösung für die dringendsten Probleme unserer Welt aussehen? Vielleicht haben wir dabei den Traum eines geheilten Planeten ein Stückweit erwecken können. Wir haben diese "andere, mögliche Welt" Planet B genannt. Der Countdown für Planet B endet mit diesem Beitrag. Wird die Rakete abheben? Was muss geschehen, damit wir wirklich in unserem eigenen Leben und als Gesamtheit die krassen Entscheidungen treffen, die jetzt getroffen werden müssen? Was bringt uns dazu, aus dem Zuschauersessel aufzuspringen, unsere Gleichgültigkeit, unsern Glauben an Vergeblichkeit und die Ohnmacht unserer Wut hinter uns zu lassen und es zu tun?
Ich möchte euch einladen, selbst die Geschichte zu schreiben, wie ihr den Wandel für möglich haltet. Versetzt euch auf Planet B: Wie haben wir es trotz allem noch geschafft, das Ruder herumzureißen? Schickt mir gerne eure Geschichten, Gedanken, Ideen und Träume zu! Und wisst: Wenn ihr wollt, bleibt es kein Märchen.
Ich persönlich kann mir das so vorstellen...
Bereits erschienen:
0 - Die Entscheidung
Es war zu einer Zeit, als sich die Weltsituation schon sehr apokalyptisch zugespitzt hatte. Klima und Natur, Demokratie, Gesundheit sowie der soziale Zusammenhalt hatten bereits enormen Schaden genommen. Die Metropolen waren heruntergekommen und von Slums umringt, die Reichen lebten in Festungen weit außerhalb, alle öffentlichen Plätze und Transportwege waren lückenlos überwacht. Fast zu spät war den Menschen klar geworden, dass wir in einen Überwachungskapitalismus übergegangen waren. Viele unterstützten das System aus Angst vor immer neuen Bedrohungen ihrer Gesundheit oder ihrer Arbeitsplätze; andere klammerten sich an ihre schwindenden Privilegien; und fast alle zogen sich auf immer kleinere Privatnischen zurück. Niemand schien den Ausstieg aus der Entwicklung zu kennen. Das Vertrauen zu Entscheidungsträgern war zerrüttet, man wusste bei all den widersprüchlichen Erklärungen kaum noch, was wahr und was falsch war. Ein öffentlicher Diskurs war so gut wie nicht mehr vorhanden, weil jede Diskussion in erbitterte Positionskämpfe ausartete. Die Möglichkeiten zu Präsenztreffen schwanden und man misstraute den Medien. Was war aus all den AktivistInnen der verschiedenen Bewegungen der letzten Jahre geworden? Sie waren vom Erdboden verschwunden. Eine Opposition schien es nicht mehr zu geben.
Wo ist die Opposition?
Doch das war ein Irrtum. Es gab die oppositionellen Bewegungen noch. All die Menschen, die früher gegen die Klimakatastrophe oder soziale Ungerechtigkeit auf die Straße gegangen waren, die sich an Schornsteine oder Atomtransporte gekettet hatten oder bedrohte Wälder besetzt hatten, die Flüchtlingshilfe oder zivilen Widerstand geleistet hatten, waren aktiver als je zuvor. Aber sie hatten ihre Aktionsform verändert. Statt gegen das System anzurennen, hatten sie schon vor Jahren begonnen, an vielen Orten der Erde, meistens fern von den großen Zentren, Modelle für eine andere Zivilisation aufzubauen. Sie hatten gemerkt, dass das Nein gegen die Zerstörung nicht ausreichte, um sie tatsächlich aufzuhalten. Das Nein würde erst wirken, wenn auch deutlich wurde, zu was sie Ja sagten. Und daran arbeiteten sie.
Teilweise an unwirtlichen Orten, weitgehend unbeachtet und wenig ernst genommen von der Öffentlichkeit, unbehelligt durch Ordnungskräfte, da sie sich geschickt zu tarnen wussten und immer unter dem Radar blieben, waren Zukunftswerkstätten und ganzheitliche Forschungslabors entstanden. Sie experimentierten mit Technologien und Methoden, die nicht nur nachhaltig, sondern regenerativ waren. Sie waren untereinander hervorragend vernetzt und pflegten einen intensiven Technologie- und Wissenstransfer weltweit. Da sie auf den Zusammenbruch des Internets vorbereitet waren, reaktivierten sie ältere Kommunikationsformen und experimentierten mit ganz neuen. Sie lernten, mit der Natur zu kooperieren, Ökosysteme zu restaurieren und in ihren Regionen die Auswirkungen des Klimawandels zu mildern oder sogar umzukehren - so dass in diesen Nischen die Erde alles hervorbrachte, was sie zum Leben brauchten.
Während die Städte immer mehr verödeten und die Freiheiten immer mehr beschnitten wurden, blühte an einigen Orten eine andere Wirklichkeit auf. Es waren sozusagen dezentrale Arche Noahs: gesunde Biotope mit ein paar Dutzend oder Hundert Menschen, die sich aufeinander verlassen konnten. Eine enorme Vielfalt an Pflanzen und Tieren, an Theorien und praktischen Anwendungen, an Altersstufen und Berufen, an kulturellen, ethnischen und sexuellen Identitäten formte so etwas wie einen neuen Kulturimpuls - immer noch als eine Subkultur, von der die Öffentlichkeit kaum etwas ahnte.
Die Entdeckung des gegenseitigen Vertrauens
Oh, es war nicht immer einfach, ganz im Gegenteil. Denn auch in den neuen Zentren trugen ja die Menschen noch dieselben Verletztheiten, Ängste und Misstrauen mit sich, die immer zu Streit und Trennung geführt hatten. Doch zwei Faktoren wirkten mit, dass sie durchkamen: Die globale Dringlichkeit ihrer Arbeit war nicht mehr zu übersehen - jetzt ging es nicht mehr um persönliche Befindlichkeit, sondern um ein gemeinsames Ziel. Und das andere war, dass sie eine neue Entdeckung gemacht hatten. Niemand konnte mehr sagen, welche Gruppe sie als erste machte. Doch auf einmal breitete sie sich aus wie einst die Erfindung der Glühbirne: An immer mehr Orten weltweit ging ein Licht auf. Es war die Entdeckung des gegenseitigen Vertrauens. Auf einmal waren sie in der Lage, Konflikte zu lösen, sich auch unbequeme Wahrheiten mitzuteilen und nicht daran zu zerbrechen. Sie konnten einander so tief öffnen, dass sie auch die geheimsten Gedanken voneinander kannten. Sie wussten, dass Zuverlässigkeit, Freude aneinander und echte Kooperation ihr wichtigster Rohstoff war. Sie teilten alles. Niemand und nichts von außen konnte sie auseinanderbringen. Wo das Vertrauen da war, breitete sich die Liebe unter ihnen aus wie ein Lauffeuer, wie das Grün im Frühling. Und sie war der Schlüssel für alles weitere. Das Leben leuchtete von neuen Möglichkeiten, sie würden nicht zulassen, dass die Welt untergeht! Und so erhielt die globale Kette von Angst, Misstrauen und Gewalt an immer mehr Orten Risse. Durch diese Risse schien immer sichtbarer eine andere Welt hervor.
Aber noch ging die allgemeine Zerstörung weiter. Immer noch brannten Urwälder, wurden Ureinwohner vertrieben, starben Tierarten aus. Die Augen der Welt waren wie gebannt auf den Zusammenbruch gerichtet, der sich überall vollzog. Eine Alternative hielt man nicht für möglich, also erkannte man sie lange nicht. Doch wer wirklich suchte, der hörte von ihnen. Und je weniger Sinn der Mainstream zu bieten hatte, desto mehr Zulauf bekamen die neuen Siedlungen. Eine Weile merkte das System gar nicht, dass ihm die Menschen davonliefen.
Umgekehrt fanden Aspekte des neuen Lebens ihren Weg in den Mainstream - die ein oder andere Anbautechnik an und auf Häusern, die ein oder andere Methode zur Konfliktlösung, die Bereitschaft, wieder mit Nachbarn ins Gespräch zu kommen - so dass hier und dort Menschen wieder Mut fanden. Einige Menschen aus den neuen Zentren gingen bewusst als Agenten des Lebens in das System zurück, übernahmen Aufgaben in Unternehmen, Medien, Regierungen und versuchten behutsam, hier und dort einen Fluss oder Wald zu retten, Entscheidungsträger zu beeinflussen und die richtigen Informationen durchsickern zu lassen.
Und dann war es eines Tages GENUG.
Das alte System war längst nur noch eine hohle Fassung, das stündlich seine Kraft und Überzeugung verlor wie ein lecker Eimer das Wasser. Und bevor der nächste Krieg angezettelt, der nächste Wald gerodet und der nächste Fluss vergiftet werden konnte, ging der Ruf durch die Welt: GENUG. Er erschien auf Transparenten, in Songs, auf Etiketten in Jeans, in Liebesgedichten und auf Graffitis in unterschiedlichen Worten, aber dem gleichen Inhalt: "Raus aus dem System. Es gibt ein anderes. Triff deine Entscheidung! Der Kaiser ist nackt!"
Es war, als würden die Menschen aus einem Alptraum erwachen. Sie sahen sich um und erkannten einander. "Bruder, Schwester, wir haben überlebt!" hatte Sun Bear einst gerufen. Wie lange waren wir in einer Hypnose der Passivität und Angst gefangen. Auf einmal sind wir wieder wir selbst. Beginnen zu denken, ins Gespräch zu kommen, nachzufragen. Wir hungern nach Wahrheit, schütteln die Diktatur der Angst ab und verlassen das System des Untergangs. Und siehe: Im Moment der Entscheidung erkannten wir, dass wir nicht ins Bodenlose stürzen würden. Denn vieles war ja bereits vorbereitet: All die dezentralen Zukunftslabors, Archen und Friedensdörfer hatten bereits eine Roadmap für Planet B aufgestellt.
Würde man es rechtzeitig schaffen, den Planeten wieder bewohnbar zu machen?
Es gab sehr viel zu tun. Die letzten Unverbesserlichen mussten auf gute und gewaltfreie Weise aus ihren Posten geleitet werden. Fast überall gelang das. So viel hatte man verloren, so viele Tierarten, Flüsse, Wälder und Menschenleben waren unwiederbringlich verschwunden. Mit weinendem Herzen ging es an die Arbeit. Jetzt war es ein Wettrennen. Würde man es rechtzeitig schaffen, den Planeten wieder bewohnbar zu machen? Man begann mit der Restaurierung, der Wieder-Aufforstung, dem Rückbau von industriellen Monsteranlagen und dem Umbau von Siedlungen und Städten. Mit der absoluten Neuorganisation des Zusammenlebens. Man setzte endlich Technologien auf die richtige Weise ein - in Kontakt und Behutsamkeit. Persönliches Macht- und Profitstreben waren der Liebe und Umsicht von Menschen gewichen, die dem Schlimmsten bereits ins Auge gesehen hatten und entkommen waren. Die alten Rangeleien waren vorbei, man arbeitete wirklich Hand in Hand. Und siehe da - etwas schien mitzuhelfen, mit dem man kaum gerechnet hatte. Die Erde selbst schien auf ihrer Seite zu sein und zeigte eine erstaunliche Regenerationskraft. Überraschend schnell begannen sich Biotope zu erholen und aufzublühen. Ganz neue Mischkulturen entstanden. Als hätten sie nur darauf gewartet, kehrten Fische und Delphine in die Lagunen von Venedig zurück, Vögel in die Wälder, Mikroorganismen und Würmer in die verdorrte Erde.
Sie verstanden nun: Die Erde war tatsächlich ein Lebewesen. Durch die Entscheidung, mit ihr zu kooperieren, blühte sie enorm auf und schenkte ihren Menschen- und Tierkindern neues Leben.
Am Anfang steht die Entscheidung, die du jetzt triffst. Um ein Sprichwort aus Uganda etwas umzuwandeln: "Die beste Zeit, deine Entscheidung zu treffen, war vor zwanzig Jahren. Die nächstbeste Zeit ist jetzt."
Leila Dregger ist Diplom-Agraringenieurin und langjährige Journalistin. Mit den Schwerpunktthemen Frieden, Ökologie, Gemeinschaft, Frauen arbeitet sie seit 25 Jahren für Presse und Rundfunk sowie als Drehbuchautorin und Regisseurin für Theater und Film. Sie war Herausgeberin der Zeitschrift „Die weibliche Stimme – für eine Politik des Herzens", Pressesprecherin des Hauses der Demokratie in Berlin und lebt heute überwiegend in Tamera in Portugal.
www.tamera.org
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