Integration von Produktion in den urbanen Raum

Wie ein Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe gelingen kann

Diesen Beitrag von Dr. Frank Hees, RWTH Aachen University, sowie Gesa Horn und Dr. Kathrin Schönefeld, Bergische Universität Wuppertal, finden sie im B.A.U.M.-Jahrbuch 2020 - Nachhaltige Stadt. Unternehmen als Akteure im urbanen Raum

Für die Wahl eines (Produktions-)Standorts im urbanen Raum treffen Unternehmen viele Entscheidungen zu individuellen Bedarfen, Anforderungen und möglichen Konsequenzen. In der Vergangenheit war eine klare Tendenz zu erkennen, Produktionsstätten aus städtisch geprägten Gebieten in suburbane und monostrukturierte Industriestandorte zu verlegen, um ungestört produzieren zu können und ausreichende Möglichkeiten zur Expansion zu haben.
 
Das transdisziplinäre Forschungsprojekt MIA der RWTH Aachen University und der Stadt Aachen hat für ausgewählte Gebiete in Aachen gezeigt, dass ein Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe in der Innenstadt gelingen kann © MIA Projekt
In den letzten Jahren ist ein entgegengesetzter Trend zu beobachten: Produzierende Unternehmen finden nach und nach den Weg zurück in die Städte und erkennen die Standortvorteile urbaner Gebiete. Dies war Ausschlag für ein Projekt zum Thema „Made in Aachen – (Re-)Integration von Produktion in den urbanen Raum", kurz MIA.
 
Das transdisziplinäre Forschungsprojekt MIA der RWTH Aachen University und der Stadt Aachen hat in einem interdisziplinären Team von 2016 bis 2019 für ausgewählte Gebiete in Aachen gezeigt, dass ein Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe in der Innenstadt gelingen kann. Voraussetzung dafür ist, dass sich alle Beteiligten möglicher Wechselwirkungen bewusst sind und aktiv an einer stadtverträglichen Zusammenführung der verschiedenen Interessen arbeiten.
 
Anforderungen und Nutzen urbaner Produktion
Produktion und Stadt – was zunächst nach einem Widerspruch klingt, bietet bei näherer Betrachtung eine ernstzunehmende Möglichkeit für Produktionsstätten der Zukunft, die sich nah am Arbeitnehmer und am Kunden befinden. Das Wechselspiel zwischen Unternehmen, Kommune und Bürgern wirft jedoch die Frage auf, welche Anforderungen für die einzelnen Akteure im Fokus stehen.
 
Aus Unternehmenssicht stellen ein spezifischer Flächenbedarf, Sichtbarkeit und Nähe zu Kunden, Mitarbeitern sowie Logistikern und ungestörte Produktionsabläufe wichtige Kriterien für einen Standort im urbanen Raum dar. Um den Bedarf nach räumlicher Nähe erfüllen zu können, wird Produzieren und Wohnen wieder enger miteinander verflochten und somit der kurze Weg zwischen Wohnen und Arbeiten beziehungsweise auch zwischen Konsument und Produzent forciert. Ein Ergebnis dieser Entwicklung können attraktivere, wohnortnahe Arbeitsplätze und kurze Lieferwege sein mit sozialökologischen und ökonomischen Vorteilen. Es gilt also innovative Nutzungsmischungen mit Synergiepotenzial zu entwickeln. Trends wie beispielsweise die kundennahe, hochindividuelle Fertigung vor Ort in kleinen Produktionseinheiten befördern dieses Konzept der Nutzungsmischung zusätzlich. Außerdem unterstützen moderne Produktionsverfahren die neuen Standort- und Nutzungsmöglichkeiten, da etwa der 3D-Druck Produktionsschritte ersetzen und Produktionsstätten emissions- sowie dadurch konfliktärmer gestalten kann.
 
Die Revitalisierung von Städten
Aus städtischer und stadtplanerischer Sicht bietet die Integration von Produktion in den urbanen Raum den Vorteil, dass ungenutzte städtische Flächen revitalisiert werden können und durch Mischnutzungen beiderseits Vorteile für Anwohner und Unternehmen entstehen können. Für Bürger und Anwohner von urbanen Gebieten sind besonders die Attraktivität des Quartiers und die Möglichkeit der Freizeitgestaltung wichtige Kriterien für die Entwicklung eines Quartiers. Bedeutend für die Attraktivität eines Gebiets ist die Anzahl der Gebäude, deren Gebäudestrukturen und die Existenz von Freiflächen wie Parkanlagen oder Spielplätzen. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Historie eines Gebiets ausschlaggebend für die Bewertung von Produktion im direkten Wohnumfeld von Bürgern ist. In urbanen Gebieten, die historisch gewachsene Nutzungsmischungen vorweisen oder über Jahrzehnte beziehungsweise Jahrhunderte als Industriestandort geprägt sind, haben Anwohner und Bürger Produktionsstätten als Teil des Gebiets angenommen und identifizieren sich und ihr Wohnviertel mit produzierenden Unternehmen.
 
Urbane Produktion in der Nachbarschaft: Akzeptanz und Konfliktpotenzial
Für Aachen konnte festgestellt werden, dass in den zwei untersuchten urbanen Räumen Produktion mit einer gewachsenen Nutzungsmischung nicht als störend wahrgenommen wird, obwohl es durch sie zu Lieferverkehren, Geruchs- und Geräuschemissionen kommt. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Angst vor Emissionen und erhöhtem Verkehrsaufkommen sind nach wie vor wesentliche hemmende Faktoren für eine Ansiedlung von Produktion im urbanen Raum. Dem versuchen Unternehmen entgegenzusteuern. Insgesamt 41 Prozent der im Rahmen von MIA befragten Unternehmen in Aachen geben an, Technologien einzusetzen, um Emissionen zu reduzieren, und 36 Prozent geben sogar an gar keine Emissionen zu produzieren. So verwundert es nicht, dass eine Haushaltsbefragung ergab, dass nur 16,7 Prozent der befragten Anwohner Aachens die Produktion in Wohnortnähe explizit ablehnen. Aktuell wird somit deutlich, dass Wohnen und Produzieren im urbanen Raum Aachens oftmals nebeneinander funktioniert und eine gegenseitige Toleranz und Akzeptanz vorhanden ist.
 
Dennoch besteht weiter Handlungsbedarf für die nachhaltige Entwicklung urbaner Produktion. In Bürger- als auch in Unternehmensbefragungen konnte festgestellt werden, dass Austausch und Kommunikation zwischen den Akteuren nur sehr selten stattfindet: Unternehmen suchen selten aktiv den Kontakt zu Anwohnern und bewegen sich meist nur auf ihrem Werksgelände, wodurch in vielen Fällen ein Eindruck der Abschottung entsteht, der seinen Ursprung oft im äußeren Eindruck und damit in der Architektur der Produktionsstätte hat. Der Eindruck wird durch Sicherheitsmaßnahmen wie Zäune, Mauern und geschlossene Räume noch verstärkt.
 
Nutzungsmischung und nachhaltige Stadtplanung
In der Folge der zunehmenden Verschiebung von Produktion in (inner-)städtische Lagen mit angrenzenden oder integrierten Wohnbebauungen ist zu erwarten, dass eine höhere bauliche Dichte, zunehmende Nutzungsvielfalt und voneinander abweichende Anforderungen ein Aushandeln verträglicher Kompromisse durch alle Beteiligten notwendig machen. Aus Sicht des Projekts MIA können Konflikte abgeschwächt und urbane Produktion positive Auswirkungen auf die Stadtentwicklung haben, wenn Kommunen, Unternehmen und Bürger sich gemeinsam das Ziel der vermehrten Nutzungsmischung und der gelebten Integration von Produktion und Wohnen setzen. Dafür bedarf es eines systematischen Ansatzes der nachhaltigen Stadtplanung und Wirtschaftsförderung.
 
Auf Basis der Ergebnisse des Projekts MIA ist davon auszugehen, dass die identifizierten Konfliktpotenziale durch eine ausgewogene Mischung, eine sorgfältige räumliche Gestaltung von Gebäuden, Anlagen sowie Freiflächen zur Bereicherung des Quartiers und durch eine Einbeziehung aller Akteure ausgeräumt werden und somit die Vorteile der urbanen Produktion genutzt werden können.
 
Drei zentrale Maßnahmen auf dem Weg zu diesem stadtverträglichen Miteinander sind daher Partizipation (d.h. Mitgestaltung), Demonstration (d.h. Vorführen von Wechselwirkungen und geeigneten Lösungsansätzen) und Kommunikation (d.h. Informationsvermittlung an alle Beteiligten).
 
Dr. Frank Hees ist zweiter stellvertretender Direktor des Cybernetics Lab IMA & IfU der RWTH Aachen University sowie Geschäftsführer des An-Instituts IfU e.V. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Strategieberatung zu den Themen Digitalisierung, Demografiemanagement, Wissensmanagement, Personal- und Organisationsentwicklung und Change Management.
 
Gesa Horn hat an der Maastricht University und der Lund University Psychologie mit der Vertiefung Arbeits- und Organisationspsychologie studiert. Während ihrer Zeit am Cybernetics Lab der RWTH Aachen University hat sie das Projekt „MIA – Made in Aachen" geleitet.
 
Dr. Kathrin Schönefeld hat sich während ihrer Zeit am Cybernetics Lab der RWTH Aachen University mit den Themen Nachhaltigkeit und Technikgestaltung beschäftigt. Derzeit forscht sie zusammen mit Gesa Horn an der Bergischen Universität Wuppertal zum Thema „Rethinking Mobility": wie KI als Enabler der Mobilität der Zukunft wirkt und wie für Bürger ein ganzheitliches Mobilitätskonzept für das Bergische Städtedreieck aussieht.

Quelle: BAUM e.V. - Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften

Gesellschaft | Green Cities, 01.12.2020

     
        
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