Erlebnisse neu denken
Die Eventbranche erfindet sich neu
Seit dem Verbot für Großveranstaltungen infolge der Corona-Pandemie erfindet sich die Eventbranche neu. Hybride und digitale Events bieten Unternehmen und Institutionen neue Chancen für ihre Kommunikation.
Zuerst wurden sie nur verschoben, dann nach und nach ganz eingestellt: Messen, Events, Kulturfeste, Festivals und Konferenzen. Für Veranstalter und Dienstleister stehen die Zeichen mit dem Lockdown auf Alarmstufe rot. Viele Agenturen, Messebauer, Caterer, Künstler oder Soloselbstständige sehen sich augenblicklich vor leeren Auftragsbüchern. Mit der symbolischen Aktion „Night of Light", bei der bundesweit Kongresszentren, Spielstätten und andere Gebäude rot angestrahlt werden, weisen Unternehmen der Veranstaltungsbranche öffentlich auf ihre dramatische wirtschaftliche Lage hin.
Neueste Untersuchungen bestätigen das. Berechnungen des Instituts der Deutschen Messewirtschaft im AUMA ergaben, dass allein die bis zum Sommer 2020 bekannten Absagen von Messen in Deutschland zu 9,3 Milliarden Euro Verlusten für die Gesamtwirtschaft führen können. Die aktuelle R.I.F.E.L. Meta-Studie zur gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der Veranstaltungsbranche gibt einen Überblick und soll den Dialog mit dem Bund zur Rettung der betroffenen Betriebe unterstützen. Demnach generiert die Branche 130 Milliarden Euro Kern- und Peripherieumsatz, damit ist sie der sechstgrößte Wirtschaftszweig Deutschlands. Nahezu eine Million Menschen arbeiten im Veranstaltungswesen. Sie bangen um ihren Job in einem Zweig, der einer der größten Arbeitgeber im Land ist. Und: Allein die Umsatzsteuereinnahmen aus Veranstaltungen betragen jährlich circa 20 Milliarden Euro. Diese wenigen Eckdaten lassen erahnen, unter welchem Druck die Branche derzeit steht.
Live, hybrid oder digital?
Die gute Nachricht: In der aktuellen Krise steckt auch eine große Chance. Die digitale Transformation der Branche vollzieht sich im Schnelldurchlauf. Auch, wenn es zu keiner vollständigen Disruption kommen wird, müssen Eventagenturen gelernte face to face-Erlebnisse neu auf die Bedürfnisse der Teilnehmer abstimmen und definieren. Es entstehen nicht nur neue Formate, auch die Geschäftsmodelle der Marktteilnehmer werden sich teils grundlegend verändern. Schon vor der Pandemie wurden Messen, Pressekonferenzen oder Corporate Events als hybride Veranstaltungen geplant. Der Trend der Digitalisierung setzt sich jetzt verstärkt fort und bringt auch immer mehr volldigitale Formate hervor. Vorreiter sind Veranstalter wie die re:publica. Die größte Konferenz zu den Themen Internet und digitale Gesellschaft in Europa hat sich nach dem Lockdown innerhalb von 36 Werktagen Vorbereitungszeit auf eine volldigitale Konferenz umgestellt – mit virtuellen Live-Situation und Deep-Dive-Sessions.
In der gesamten Branche besteht Konsens darüber, dass nicht jedes Live-Event ersetzbar ist. Veranstaltungen leben vor allem vom Netzwerken und der zwischenmenschlichen Interaktion. Beides ist mindestens so wichtig wie das Programm. Dennoch wird sich das Budget für Live-Kommunikation stärker in Richtung digital ausrichten und damit der Anteil hybrider und digital geplanter Veranstaltungen steigen. Auf der anderen Seite herrscht bei Unternehmen und Institutionen noch Unsicherheit darüber, wie der Prozess der Digitalisierung von Events vorstatten gehen kann und welcher Nutzen daraus entsteht. Um Orientierungshilfe zu geben, sind Dienstleistungsunternehmen der Live-Kommunikation gut beraten, mit Feingefühl und im engen Dialog mit ihren Kunden zuerst diese konkreten Fragen zu formulieren.
- Ist ein digitales Event die richtige Lösung für die Aufgabenstellung?
- Sind die Bedürfnisse der Zielgruppe bekannt und können sie virtuell erfüllt werden?
- Kann der Veranstalter die Kernbotschaft in einer digitalen Umgebung authentisch übermitteln?
- Welcher Nutzwert entsteht für die Teilnehmer – inhaltlich bei der Wissensvermittlung und emotional mit Blick auf Interaktion und Community-Building?
Virtuelle Events anders planen
Klar ist: Hybride und digitale Erlebnisse müssen anderes konzipiert werden als Präsenzveranstaltungen. Als Vorgabe sind die Zahl der Teilnehmer und der Grad der Partizipation und Interaktion relevant. Ob Konferenzen, Workshops, Seminare, Events, Kongresse, Trainings oder Mitgliederversammlungen – viele klassische Live-Veranstaltungen, die primär auf den Transfer von Wissen abzielen, können in den virtuellen Raum übertragen werden. Tools und Kanäle, die sich dafür anbieten, sind Live-Streaming zur Übertragung von Online-Events von öffentlich zugänglichen Veranstaltungen bis zu solchen für einen geschlossenen Kreis, Vorträgen, Webinaren oder Videos, Videokonferenzen per Skype, Zoom oder Microsoft Teams, Social Media für Treffen und Austausch wie Instagram, LinkedIn und Facebook mit Tools wie Live-Q&A, Video-Chats und Event-Gruppen, aber auch Virtual-Reality-Anwendungen für 3D-Events oder Produktlaunches. Bevor es in die konkrete Planung geht, sollte daher geprüft werden, welche technische Infrastruktur bereits vorhanden ist, auf die aufgesetzt werden kann. Im besten Fall wird das Hauptgeschehen mit Moderation live vor Ort im Studio produziert. Die Umstellung auf ein hybrides oder volldigitales Event folgt klaren Regeln:
- Erwartungsmanagement: Alle Akteure und Stakeholder zur Festlegung der Ziele und Erwartungen rechtzeitig einbinden, regelmäßige Jour Fixes zum Abgleich der aktuellen Planung, langwieriges Nachjustieren ist aufgrund von kürzeren Vorlaufzeiten schlichtweg nicht möglich
- Mit Agenda arbeiten: Die Konzeption folgt stringent den Bedürfnissen der Zielgruppen
- Content bleibt King: Auch und gerade im virtuellen Raum braucht es die richtige Content-Strategie und ein spannendes Storytelling, das Narrativ hilft, Informationen zu vermitteln und Emotionen zu erzeugen
- Weniger ist mehr: Online verzeiht keine Längen, jedes eingesetzte Modul muss auf den Prüfstand, Konzentration auf das Neue und Wesentliche, nur dann bekommt die eigene Botschaft Kraft und hält den Teilnehmer aufmerksam am Bildschirm
- Mehr Vorbereitung: Vorabbriefings, Einspieler, Textcharts und Infopakete plus individuelle Betreuung der Akteure und Moderatoren erleichtern Ablaufproben und Regiearbeit
- Interaktionen vermitteln auch online das Gefühl von Gemeinschaft und binden Teilnehmer ein
- Technische Hürden abbauen: Keynote Speaker, Referenten oder Panelisten müssen technisch in die Lage versetzt werden, reibungslos teilnehmen zu können – von der Anmeldung bis zum Versand von Plug and Play Hardware
- Reize setzen und Pausen gönnen: Online ist die Aufmerksamkeitsspanne geringer, Reize wie Animationen, kurze Einspieler, Kamerafahrten, Jingles oder wechselnde Bildformate aktivieren, Pausen lockern auf etwa mit einer Online-Live-Music-Session oder einem Quiz
- Zeitzonen beachten: Bei internationalen Teilnehmern eventuell mit vorproduziertem Material wie aufgezeichneten Keynotes arbeiten
- Datenschutz: Ein komplexes Thema, das für jedes Event individuell geprüft werden muss
- Sicherheitsaspekte bei hybriden Formaten: Abstands- und Hygieneregeln (1,5 Meter Abstand bei der Planung der Räumlichkeiten), Seating beachten (Faustformel: ca. 1?4 Kapazität im Vergleich zur maximalen Kapazität ohne Abstand), Infektionsketten bereits über das Teilnehmermanagement erfassen und rückverfolgen
Interaktion bringt Emotion
Rein digitale Kopien physischer Events laufen Gefahr, die Teilnehmer nicht richtig zu erreichen. Der Grund: Sie ignorieren eines der größten menschlichen Bedürfnisse – emotionale Bindung. Live-Events verbinden mühelos Kunden, Mitarbeiter und Partner in einem gemeinsamen Erlebnisraum. Deshalb sollten hybride und digitale Events darauf abzielen, den Teilnehmern ein Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln und sie durch interaktive Elemente einzubinden. Das beginnt mit einer Szenerie über virtuelle, gestaltete Räume im 3D-Format, in die sie eintreten. Bei voll digitalen Events wird Nähe erzeugt, indem der Moderator auf einer virtuellen Bühne agiert. Die Protagonisten werden zwar extern dazu geschaltet, sind aber zum Beispiel über einen Green Screen virtuell und in ganzer Größe eingeblendet. Ein inhaltsgetriebener Ansatz sind die Co-Creation und kollaborative Formate.
Dabei arbeiten die Teilnehmer zu bestimmten Themen in kleinen Break-Out-Sessions zusammen und kommen zu einem gemeinsamen Ergebnis. Beispielsweise diskutieren sie face to face im Videochat, weitere Personen kommen dazu, es entsteht eine gemeinsame Diskussion. Auf diese Weise lernen sich Teilnehmer trotz physischer Distanz kennen und es entsteht ein Ergebnis mit Mehrwert.
Im virtuellen Raum können auch die Pausen bewusst zur Interaktion genutzt werden. Dafür bieten sich Care-Pakete an, die vorab an die Teilnehmer verschickt werden – mit Produkten, über die zuvor diskutiert wurde oder einfach mit Giveaways wie Requisiten für die Interaktion bis hin zu Essenslieferungen. Der Austausch darüber sorgt für Gesprächsstoff oder sogar für eine schöne Begegnung, die im Gedächtnis bleibt.
Chancen und Grenzen virtueller Veranstaltungen
Chancen:
Grenzen:
|
Fazit
Kein Zweifel: Virtuelle Begegnungen können echte menschliche Begegnungen nicht ersetzen. Nutzen wir aber Involvement, persönliche Ansprache und Interaktion mit den Teilnehmern sowie ein intelligentes Storytelling, transportieren wir Emotionen in den virtuellen Raum. Auf diese Weise gelingt es, die räumliche Distanz zu überbrücken und für alle Teilnehmer ein nachhaltiges Erlebnis zu inszenieren. Gefragt sind Flexibilität bei der Konzeption und ein tiefes Verständnis von ganzheitlicher Kommunikation. Zentral ist dabei die Fokussierung auf die Zielgruppe und das Ziel. Das ist das Fundament und gilt im digitalen Raum umso mehr. Im Zusammenspiel von echter Begegnungskommunikation und virtueller Information liegt die Zukunft.
Hinweis: Erstveröffentlichung in Public Marketing, Ausgabe 4-5/2020.
Michael Vagedes leitet gemeinsam mit Angelika Vagedes und Christiane Schmid eine Agentur für Live-Kommunikation mit Sitz in Hamburg. Seit 2011 ist er zudem Vorstandsmitglied des Deutschen Marketingverbands, im Jahr 2017 wurde Vagedes zum ersten Ehrenpräsidenten des Marketing Club Hamburg seit Clubbestehen ernannt.
Technik | Digitalisierung, 01.12.2020
Dieser Artikel ist in forum 04/2020 - Jetzt reicht's! erschienen.
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