Shoppen statt Bildung
Umfrage zur Priorisierung der Lockdown-Lockerungen schockiert unseren Philosophen Christoph Quarch
Wenige Tage vor dem jüngsten Covid-Gipfel von Kanzlerin und Länderchefs veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Yougov im Auftrag der Deutschen Presseagentur eine Umfrage, deren Beteiligte gefragt wurden, welche drei Lockdown-Lockerungen sie sich am dringendsten wünschen. Das Ergebnis spricht eine deutliche Sprache: 49 Prozent wünschen sich, wieder ungehindert shoppen zu dürfen, 43 Prozent wollen sich ohne Auflagen mit Freunden und Bekannten treffen. Die Öffnung von Bildungseinrichtungen und Schulen liegt mit 32 Prozent abgeschlagen auf Rang 4. Ziemlich am Ende der Prioritätenliste stehen der Besuch von Kulturveranstaltungen (12 Prozent) und der Besuch von Sportevents (5 Prozent). Was sagt der Philosoph dazu:
Herr Quarch, für Kulturschaffende wie Sie, sind das keine guten Nachrichten, oder?
Für niemanden sind das gute Nachrichten. Okay, die Einzelhändler mögen das anders sehen. Aber wer sich um den Zustand unserer Gesellschaft kümmert, wird diese Zahlen mit Sorge zur Kenntnis nehmen. Ich gestehe offen, dass sie mich sogar gründlich schockiert haben. Ich gehöre zu denen, die glaubten, die Covid-Krise werde zu einem Umdenken der Menschen führen: zu mehr Gemeinsinn und zu mehr Sozialbewusstsein. Wenn aber die Hälfte der Deutschen vor allem ans Shoppen denkt und weniger als ein Drittel an die Bildung der jungen Generation, dann zeigt mir das, wie sehr wir weiterhin in Hedonismus uns Selbstbezüglichkeit gefangen sind.
Aber nicht jeder, der ungehindert einkaufen möchte, ist deshalb ein Hedonist. Und an zweiter Stelle steht die Hoffnung auf nicht weiter reglementierte Sozialkontakte.
Anfangs hat mich das auch getröstet. Klar, wenn 43 Prozent Sehnsucht nach der Begegnung mit Freunden und Verwandten haben, spricht daraus vordergründig ein sozialer Sinn. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Denn an dritter Stelle folgt bei der Umfrage der Wunsch nach Öffnung von Restaurants und gastronomischen Betrieben. Das weist wieder mehr in Richtung Hedonismus und Selbstbezüglichkeit: Man denkt an seinen Vorteil, sein Vergnügen – man will sich etwas gönnen und erhofft sich Glück und Freude vom Konsum. – Man kann auch Freunde und Bekannte konsumieren. Die Hälfte der Deutschen scheint unter der Krise vollends zum Konsumenten bzw. Verbraucher mutiert zu sein. Bildung und Kultur werden für diese Leute unerheblich.
Sie meinen, die Zahl derer, die sich Schulöffnungen wünschen, liegt deshalb nur bei 32 Prozent, weil die restlichen zwei Drittel nur noch an Konsum und Spaß denken? Das scheint mir eine ziemlich kühne Deutung zu sein.
Mag sein. Aber ich möchte ja auch provozieren. Ich möchte, dass wir noch mal in uns gehen und uns fragen, was in der Post-Covid-Welt wirklich wichtig ist. Und ob es klug ist, Einkaufen wichtiger zu finden als Bildung und Kultur – zumal in einer Zeit, in der man selbst im Lockdown via Internet restlos alle Waren dieser Welt erwerben kann. Ich frage mich, was mit uns los ist, wenn für unsere Gesellschaft die Befriedigung ihrer Konsumbedürfnisse so viel wichtiger ist als die Bildung ihrer Kinder und die Bewahrung oder auch Entfaltung ihrer Kultur. Konsum fesselt uns immer an die Gegenwart. Bildung und Kultur hingegen sind die wichtigsten Vehikel in die Zukunft. Das ist es, was mir Sorge macht. Wir denken nicht mehr nach vorne. Wir haben unsere Dynamik verloren und sind in der Pandemie gealtert.
Was wären denn Ihre Prioritäten?
Das ist unwichtig. Wichtig ist, welche Prioritäten setzen muss, wer an der Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens interessiert ist. Und da muss die Bildung an erster Stelle stehen: Schulen, Hochschulen, Volkshochschulen – all das muss so schnell wie möglich wieder zum Normalbetrieb zurückkehren, denn Demokratie braucht gebildete Bürgerinnen und Bürger. Und Bildung braucht auch die Begegnung von Mensch zu Mensch. An zweiter Stelle muss der Kulturbetrieb wieder aufgenommen werden. Zumal erwiesen ist, dass in Theatern, Konzertsälen und Museen das Infektionsrisiko mit Maske annähernd gleich null ist. Kultur bringt Menschen auf neue Gedanken. Und die brauchen wir dringend, wenn wir als Gesellschaft konstruktiv aus dieser Krise kommen wollen.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
Hören Sie ihn persönlich im SWR-Podcast Frühstücks-Quarch. Lesen Sie mehr von ihm unter www.christophquarch.de
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Bildung, 08.03.2021
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