"Impfangebote" für Kinder
Christoph Quarch sieht darin das Symptom einer ideenlosen Politik, die es versäumt hat, beizeiten eine komplexe Strategie für die Schulöffnung nach den Ferien zu entwickeln.
Es war damit zu rechnen: Im Einvernehmen mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn haben die Gesundheitsminister der Länder beschlossen, ab sofort flächendeckende „Impfangebote" für Jugendliche und Kinder ab zwölf Jahren zu unterbreiten. Unter der Voraussetzung einer ärztlichen Beratung und der Zustimmung der Sorgeberechtigten sollen die Impfungen von Hausärzten und Impfzentren durchgeführt werden. Kritik an dem Beschluss kommt vom Deutschen Hausärzteverband, der bemängelt, die Ministerkonferenz habe die Warnungen der Ständigen Impfkommission STIKO ignoriert, die wiederholt unter Berufung auf eine unzureichende Datenlage von allgemeinen Impfangeboten für Kinder abgeraten hatte. Die Diskussion wird deshalb vermutlich nicht so bald zum Erliegen kommen. Wählen wir einen anderen Blick und fragen den Philosophen.
Herr Quarch, als Denker und Vater: Was halten Sie von den Beschlüssen der Gesundheitsministerkonferenz?
Zu der medizinischen Dimension kann ich mich nicht äußern. Da muss auch ich mich auf die Fachleute verlassen. Anders verhält es sich mit der politischen Dimension. Was das angeht, habe ich große Bedenken. Und zwar aus einem einfachen Grund: Bisher haben die Bundes- und die Länderregierungen ihre Entscheidungen stets damit begründet, auf Basis von Wissenschaft und Expertise zu handeln. Nun soll das plötzlich nicht mehr gelten und die rein wissenschaftlichen Argumente der STIKO werden in den Wind geschlagen: So wichtig sei es dann doch nicht, eine belastbare und wissenschaftlich valide Datenlage zu haben. Und überhaupt: Andere Länder impfen ja schon längst Kinder. Ich fürchte, auf diese Weise schießt sich die Politik ins Knie. Sie beschädigt das wissenschaftliche Fundament ihrer Covid-Strategie und bewirkt eine weitere Erosion des Vertrauens.
Sie selbst haben hier bei uns mehrfach gesagt, allein mit Wissenschaft könne man einer Pandemie nicht beikommen. Nun emanzipiert sich die Politik von der Wissenschaft, und dann ist es auch nicht gut?
Das Problem sehe ich darin, dass die Regierenden seit eineinhalb Jahren jede ihrer Maßnahmen einseitig unter Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse begründet haben. Das ganze Gebäude der Impfstrategie steht auf diesem Fundament. Zumindest wurde es so kommuniziert und durch Spahn, Lauterbacht etc. gebetsmühlenartig wiederholt. Wenn man sich so sehr auf diese Legitimationsstrategie festgelegt hat, tut man nicht gut daran, sein bei Impfthemen wichtigstes wissenschaftliches Gremium zu ignorieren.
Die Gesundheitsminister sehen das anders. Sie sagen: Die STIKO hat nicht ausgeschlossen, dass – wenn die Datenlage es hergibt – allgemeine Impfangebote an Kinder ausgesprochen werden könnten. Von dieser Möglichkeit habe man nun Gebrauch gemacht. Es sei ja eben auch nur Angebot und nicht mehr.
Das ist die Theorie. Die Praxis sieht aber anders aus. Und hier rede ich nun als Vater. Wenn klar ist, dass Kinder ab 12 geimpft werden können – ja, bei Lichte besehen nach Wunsch der Regierenden geimpft werden sollen –, dann verschiebt die Politik ihre Verantwortung auf fahrlässige Weise an die Eltern. Denn machen wir uns nichts vor: Eltern stehen seit dieser Woche vor einer für sie nicht beantwortbaren Frage: Lasse ich den begründeten Bedenken der STIKO zum Trotz meine 12-Jährige impfen? Welchem Druck wird sie von Mitschülern und Lehrern ausgesetzt sein, wenn ich sie nach den Ferien ungeimpft zur Schule schicke? Soll ich, nur weil den Politikern sonst nichts einfällt, die Gesundheit meiner Kinder aufs Spiel setzen, die anders als Senioren noch ein ganzes Leben vor sich haben. Kurz: Die Eltern, die in der Pandemie ohnehin wie kaum eine andere gesellschaftliche Gruppe von der Politik allein gelassen worden, werden hier ohne Not in eine unmögliche Situation manövriert. Das ist für mich im vollen Sinne des Wortes verantwortungslos.
Die Minister begründen ihren Beschluss damit, er werde "zu einem sichereren Start in den Lehr- und Lernbetrieb nach den Sommerferien beitragen". Genau das ist doch im Interesse der Eltern.
Selbstverständlich. Aber die Frage ist, ob diese Prognose stimmt. Im Mai, als die Inzidenzen viel höher lagen, hat der Schulbetrieb mit Maske und Schnelltests gut funktioniert. Natürlich wäre es schön, wenn man darauf verzichten könnte. Aber das wird – so wie wir die Regierungslinie nun kennen – nicht eher geschehen, als alle Schülerinnen und Schüler tatsächlich geimpft sind. Wenn ich mein Kind ohne Maske zur Schule schicken möchte, ist die Impfung also so oder so kein Weg dorthin. Und natürlich ist die Frage berechtigt, warum nicht längst die Klassenzimmer der öffentlichen Schulen – so wie in Privatschulen üblich – mit Raumlüftern ausgestattet sind. Wie sich die Lage darstellt, ist das Impfangebot für Kinder nicht mehr und nicht weniger als das Symptom einer ideenlosen Politik, die es versäumt hat, beizeiten eine komplexe Strategie für die Schulöffnung nach den Ferien zu entwickeln.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 03.08.2021
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