Selbst wenn die Umweltagenda länger und länger wird, setzen sich nur eine Handvoll berühmter Solisten für nachhaltige Ziele sowie für Gleichstellung ein. Das Lucerne Festival, auch heuer im Kultur- und Kongresshaus KKL Luzern situiert, zeigt auffällig viel Engagement für die Umwelt mit Projekten, Workshops. Förderungen und preisgekrönten Solisten wie Igor Levit.
Bisher schien es, dass Umweltaktionen und Klassikkonzerte zwei verschiedenen Schuhen gleichen. Seit dem Covid-19-Ausbruch jenseits von glühenden Urwaldschneisen, Intensivabteilungen oder einsam werdenden Übungskojen bekommen Festivalouvertüren einen ganz neuen Touch. Vielen Berufsmusikern scheint es darum zu gehen, die allgemeine finstere Leere und persönliche Schicksalsschläge durchzustehen. Solisten wie Igor Levit bezweifeln jedoch schon eine Weile unseren Sinn für die Umwelt.
Nicht nur auf Youtube und Twitter, sondern an improvisierten Guerilla-Performances vor Baggern oder Holzerntemaschinen erkennt man den eigentlichen Ethos von Igor Levit. So entlockte er im Danneröder Forst, wo sich nicht nur Jugendliche an über 350-jahre alte Buchen und Eichen gekettet haben, im Dezember 2020 ein keltisches Folkslied aus seinem Flügel, um die sichtlich ermüdeten Aktivisten und Autobahngegner zu unterstützen. Gleichwohl gab es dort 72 Stunden später keine Eiche mehr.
Der im Oktober 2020 mit dem Deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Wunderpianist zählt nicht nur auf eine grosse Audienz mit über 115’000 Followern, die täglich seinen Hauskonzerten beiwohnen, er scheidet auch jene Geister, welche die üblichen treuen Rezeptionen von Klassikgenies vorziehen. Wobei Levit auch Beethovens Welt in 32 Podcast-Folgen interpretiert.
Dem bald 33-jährigen Konzertpianisten geht es in seiner Musik weit mehr um eine 1:1 Hinterlassenschaft oder Tradition von Werten, sondern darum, „wie es es sich anfühlt und welche Arbeit darin steckt, Musik zu spielen. Und warum sie bis heute Menschen inspiriert, sich für Freiheit und Menschlichkeit einzusetzen." (Quelle: br.klassik.de)
Nachhaltigkeit: Ein Spiegel der Gesellschaft
Innovation und Nachhaltigkeit sind Vokabular-Bestandteile von Präsidenten und Kommunikationschefs, von Tourismus- und Sponsoring-Spezialisten. Aufklärungsseiten führen die User seit Zeiten durch verantwortungsvolle und nachhaltige Erlebniswelten, denn es geht um eine an die Grenzen kommende Weltbevölkerung, um extreme klimatische Ausmasse, um Emmisionsrechte und um den Ruf von Konzernen oder Rechtsschutz Versicherungen.
In Suchmaschinen kursiert der Begriff unter A wie Architektur bis Z wie die Wiener Zither, die inzwischen zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO gezählt wird. „Nachhaltigkeit" spielt in der Resilienz- und Gesundheitsforschung, im Resonanztourismus oder in der Eco-Chic-Mode eine bedeutende Rolle, doch ein spezifischer grüner Fokus auf die sonst allzu impulsiv geltende Musikwelt fehlte bis anhin.
Gar der Papst Franziskus forderte eine dringliche „kulturelle Revolution", denn „die menschliche Wurzel der ökologischen Krise" stecke in der „Technologie und ihrer Ambiguität von Kreativität und Macht" (Quelle: „Laudato si’", das dritte Kapitel 102-105) und „die Globalisierung des technokratischen Paradigmas" (106-114). Im sogenannten „Laudato si’" (Dt.: „Gelobt seist du") hat sich der Papst 2015 in seiner Umwelt-Enzyklika „über die Sorge für das gemeinsame Haus" geäussert.
Schwerpunktmässig vertiefte er dabei die sozialen Ungerechtigkeiten und der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und verwies auf eine „grosse anthropozentrische Masslosigkeit: ein prometheischer Traum der Herrschaft über die Welt […], der den Eindruck erweckte, dass die Sorge für die Natur eine Sache der Schwachen sei."
Klassische Musik und Courage
Während PR-Verantwortliche seit alters den universalen Begriff „Nachhaltigkeit" ein gesamtgesellschaftliches Facelifting unterziehen, setzen einige wenige Künstler, Jazz- und Indie-Musiker einen Kontrapunkt gegen die weltpolitische Transformation, um nicht zu schweigen gegen disruptive technologische Mächte, interkontinentale Pipelines oder abgehobene Unternehmen wie SpaceX, die Mondanflüge von Tesla-Chef Elon Musk.
Was jedoch sind die spezifischen Potenziale von vorurteilslosen Konzerten, und warum sollte das die Gemeinheit interessieren? Shain Shapiro, Executive Director des Centre for Music Ecosystems, CEO von Sound Diplomacy und Leader, was die UN-Nachhaltigkeitsziele anbetrifft, unterhielt sich im Frühling 2021unter anderem mit Städtplanerinnen und Musikexperten in einer UN Videokonferenz übers Verhältnis von Musik und Nachhaltigkeit und erklärte:
"Musik spielt eine Rolle dabei, die Welt wirtschaftlich, sozial und kulturell zu einem besseren Ort zu machen." Die Direktorin der UN SDG Action Campaign, Marina Ponti, schloss den Workshop mit einem Zitat des japanischen Musikers Miyavi: "Ich glaube nicht, dass Musik die Welt verändern kann, aber Musik kann Menschen verändern, und Menschen können die Welt verändern."
Igor Levit, der mit vier Jahren schon als Solist debütierte, der Virtuose, der sich im zwölften Lebensjahr an ein neues Lebensumfeld gewöhnen musste, weil er mit seiner Mutter als „Kontigentenflüchtling" von Russland nach Deutschland umsiedelte, sieht sich als Teil eines bewusst couragierten Humanismus: „Als Teil der Kulturwelt sehe ich mich auch in der Verantwortung."
Seit 2019 ist er Professor für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Trotzdem wird er bis heute wegen seinen opportunistischen Bemerkungen auf Social Media kritisiert. Er bange jedoch um wenige Dinge in seinem Leben, offenbarte er in einem Interview mit ARTE TV zum Thema „Create Your Revolution" - „aber vor politischer und gesellschaftlicher Taubheit habe ich Angst", betonte er.
Auf grossen politischen und kulturellen Bühnen würden Gäste nicht zu Wort gelassen. Deshalb würden ihm Menschen, „die sich beispielsweise bei Fridays for Future einsetzen, Hoffnung geben. Und das ist für mich zutiefst inspirierend."
Applaus für mehr Diversität
„Verrückt", so lautet das doppelsinnige Motto des
Lucerne Festivals (10. August bis 12. September 2021). Es bezieht sich auf Komponisten, die als eigentümlich oder spleenig galten, aber mit ihren Stücken auch ästhetische Massstäbe „
ver-rücken". Darüber hinaus werden Werke mit Bezügen zu Wahnsinn, der Liebe als verrücktestem Gefühl, fantastischen Gestalten und Verwirrungen präsentiert. Allerdings, was hat die klassisch überlieferte Musik mit konkreten Umweltzielen am Hut?
Für Igor Levit ist klar, dass die Gesellschaft nicht im Stillstand verharren soll. Gleichzeitig könnten die vielen kursierenden Optionen, die Welt zu verändern, konkrete Umweltprojekte erdrücken oder zumindest ideologisch vergröbern. Ebenso bedeutet ihm eilfertiger Applaus nach einer komplexen Sinfonie von Beethoven nicht viel.
„Wenn sie in dem geschützten Raum des Konzertsaals etwas tun, reicht das nicht", äusserst sich der Solist in grossen Tageszeitungen gegen Ausgrenzung. Levit wünscht sich nicht zügelloser Beifall, sondern echte Teilnahme - denn unter einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit, unter divergierenden Ideologien und kollabierenden Klimasystemen sollten die SDG Ziele der Vereinten Nationen endlich umgesetzt werden.
Virtuosen wie Levit verhelfen Kulturbetrieben, die nicht nur im Lockdownmodus Etagen und Balkone in Schuss bringen müssen, zur gebührenden Aufmerksamkeit - überzeugende Umweltziele inklusive. So schenkt das Lucerne Festival zusammen mit der ZURICH Versicherungsgruppe für jeden Besuch des Schweizer Jugend-Sinfonie-Orchesters und des Lucerne Festival Orchestra einen Baum fürs Doce-Flusstal - einem vormaligen Hotspot der Biodiversitiät - in Brasilien.
Das Festival fügt sich schon eine Weile lang der Diversität per se: Dazu gehört das West-Eastern Divan Orchestra, oder das „Music Camp" in Kooperation mit Superar Suisse, welches das Musizieren von Heranwachsenden fördert. Mit dem Thema „Primadonna" hat das Festival früh schon die internationale Diskussion um die Rolle von Frauen im Dirigentenberuf in Gang gesetzt, kooperierte es mit der Organisation «Zuflucht Kultur» für eine halbszenische Aufführung von Mozarts „Idomeneo" mit Geflüchteten.
Mit «Musicians for Future» möchte das Festival nun weitergehen mit anregenden Podiumsdiskussionen über Nachhaltigkeit und Diversität.
Daher stellt das Lucerne Festival auch eine gewichtige Plattform, was die Regenerationsfähigkeit der Umwelt und Gesellschaft anbetrifft.
Die diesjährigen Aufführungen versprechen mehr als nur leere Statements zwischen Orchestergraben und Forstwirtschaft abzugeben. Wenn kosmopolitisch Interpreten wie Igor Levit oder die moldauisch-österreichisch-schweizerische Konzertgeigerin Patricia Kopatchinskaja, die sonst mit dem Orchester des Wandeln furiose Kompositionen für Renaturierungsprojekte spielt, ungewöhnliche Klassik-Zyklen bestreiten.
Mehr zu den einzelnen Festivalaufführungen und Podiumsdiskussionen („Wie lässt sich die Zukunft der Musik nachhaltig gestalten?") mit etwa der Geigerin Patricia Kopatchinskaja, der Dirigentin Johanna Malangré und dem Soziologen Harald Welzer (Moderation: Barbara Bleisch) finden sie unter diesen Links:
Über Michael Merz:
Michael Merz, Chefredaktor der „UmweltPerspektiven" von 2016 bis 2020 und crossmedialer, freier Publizist, vertieft seit rund 20 Jahren Themen in den Bereichen „Umwelt", „Gesellschaft", „Gesundheit", „Management". Als passionierter Radio-DJ und Event-Co-Organisator hat er ebenso ein grosses Anliegen: weniger eindimensionale News aufwärmen, dafür kollektive und nachhaltige Themen vertiefen. Ebenso befürwortet er clevere Dienstleistungen und solide Produkte ohne unnützliche Verschleisszeichen oder ein vorprogrammiertes Ablaufdatum.
Zum Verhältnis von Spiritualität, Nachhaltigkeit und modernen Organisationskulturen
Es ist längst kein Geheimnis mehr: Kollektives Musizieren stärkt den Gruppenzusammenhalt, und musikalische Improvisation schult die zwischenmenschliche Kreativität - beides wichtige Ressourcen für die Resilienz von Organisationen. Allerdings, wie steht es um die Rolle von einzelnen Unterhaltungskünstlern?
Die meisten sehen Solisten wie Bobby McFerrin quasi als Stehauf-Jazz-Sänger. Doch der studierte Dirigent erläuterte in einem kontemplativen Interview mit dem Autor dieses Texts (siehe Jazz’N’ More „Beyond Words" von Michael Merz, 2002), dass „Musik die Umwelt, in der wir leben, transzendiert und weiterentwickelt."
Egal ob Folk, Jazz, Body Music oder religiöse Zeremonien: Musik übermittelt nicht nur schiere Freude, sondern immer auch tief in die Umwelt verwurzelte Glaubensströmungen.
Was die Erfahrung von Musik auf individueller Ebene betrifft, so besteht durchaus auch eine Art Spiritualität und Nachhaltigkeit, um weltliche Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen, Widersprüche und kreativ-chaotischen Dimensionen in ein neues Licht zu rücken. Der emeritierte Professor und amerikanische Musikwissenschafter Jeff Todd Titon sieht bereits in individuellen Unzulänglichkeiten eine Transformation zur Nachhaltigkeit. Musikaufführungen seien jedoch wie Kunstperformances immer als ein "zweischneidiges Schwert" zu verstehen, denn ihre emotionale Wirkungskraft könne auch zur Stärkung von Vorurteilen oder zur Vereinfachung von Weltanschauungen führen.
Deshalb ist die Forschung an der Schnittstelle von Musik, Nachhaltigkeit und Diversität wichtiger denn je. Es zeigt die Mechanismen auf, die an dieser Stelle wirken, und hebt Schlüsselbereiche hervor, in denen Gemeinschaften zusammenwirken, Organisationen interagieren und die Gesellschaft überhaupt miteinander harmoniert. (mm)
- Improvisiertes Musizieren stärkt den Gruppenzusammenhalt und schult die soziale Kreativität.
- Das Erleben und Praktizieren von Musik kann zur Förderung der Nachhaltigkeit beitragen.
- Musik ist eine Ressource für organisatorische Resilienz und kreative Resilienz.
- Musik kann auch dazu benutzt werden, Vorurteile und Unnachhaltigkeit zu verstärken.
- Kulturen der Nachhaltigkeit erfordern die musikalische Erfahrung einer Ästhetik der Komplexität.
(Quelle: Kagan/ Kirchberg: „Music and sustainability: organizational cultures towards creative resilience, a review, November 2016)
Ein Beitrag von Michael Merz