Eine Frage der Bequemlichkeit

Wie kommt man vom Reden zum Handeln?

Wenn man sie danach fragt, gibt ein Großteil der Bevölkerung an, dass Klima und Umwelt schon wichtig seien. Dazu bereit, etwas zu ändern – etwa auf Flugreisen zu verzichten, das Auto zu teilen oder mehr mit dem Fahrrad zu fahren –, sind jedoch die wenigsten. Das könnte sich ändern.

In Berlin sind 47 Prozent der Autofahrten unter fünf Kilometer lang – Strecken also, die die allermeisten Menschen problemlos mit dem Fahrrad zurücklegen könnten. © Skitterphoto, pixabayAnlässlich der Bundestagswahl und des katastrophalen Hochwassers rückt die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung zur Umstellung ihrer Lebensweise zunehmend in den Fokus. Laut einer repräsentativen Umfrage des ZDF vom 16. Juli befinden sich Umwelt und Klima auf Platz zwei der aktuell wichtigsten Probleme (Platz eins: Corona). Sobald jedoch konkrete Maßnahmen ins Spiel kommen – etwa eine CO2-Bepreisung von Benzin oder ein Tempolimit auf Autobahnen – scheint die Veränderungsbereitschaft eher in verbitterten Widerstand umzuschlagen. Ein Twitter-User reduzierte kürzlich den Konflikt polemisch auf die Frage: „Wollt Ihr mehr Klimaschutz oder mehr Klimakrise?". Die Antwort ist gerade nach den Katastrophen dieses Sommers mühelos zu formulieren, dies jedoch als Maßstab für das eigene Handeln anzusetzen, ist ungleich schwieriger. 

Vom Sinn der Bequemlichkeit
Wenn es um Veränderung geht, ist oft von Verzicht die Rede. Menschen, die nicht verzichten wollen, wird Bequemlichkeit vorgeworfen. Dabei ist gegen Bequemlichkeit prinzipiell nichts einzuwenden: Sie ist die positive Variante von Faulheit, die auch als eine Art des freiwilligen Verzichts angesehen werden kann. Die Frage ist nur, ob Verzicht und Bequemlichkeit als Erklärungsmodell fürs Nichtstun ausreichen, oder in diesem Zusammenhang anders gefragt: Sind die 48 Millionen Autos in Deutschland eine Frage von Bequemlichkeit?

Einiges spricht dafür: Seit fast einem Jahrhundert wird Deutschland mit allen Mitteln autogerecht gestaltet. Gut ausgebaute Straßen, Pendlerpauschalen, kostenlose Parkplätze im öffentlichen Raum, praktische Stellplätze und Tiefgaragen in Wohnanlagen, Dieselsubventionierung, Dienstwagenprivilegien und vieles mehr sollen das Autofahren möglichst bequem und günstig gestalten und nebenbei natürlich die Produktion ankurbeln. Auch Sicherheit und Technik der Kraftfahrzeuge wurden enorm verbessert, von der Sitzheizung über den Airbag bis zur Rückfahrkamera und dem Parkassistenten bleibt kein Wunsch offen. Eine Erkenntnis allerdings ist niederschmetternd: Ein deutsches Auto steht in der Regel mehr als 23 Stunden am Tag nur herum, oft sogar kostenlos im öffentlichen Raum. Und wenn es gefahren wird, zum Beispiel in Berlin, sind 47 Prozent der Fahrten unter fünf Kilometer lang – Strecken also, die die allermeisten Menschen problemlos mit dem Fahrrad zurücklegen könnten. Trotzdem behaupten viele Menschen: „Ich bin auf mein Auto angewiesen!" und verteidigen damit den verkehrspolitischen Status-quo.
 
In Berlin sind 47 Prozent der Fahrten unter fünf Kilometer lang

Vom Preis der Abhängigkeit
Auf etwas angewiesen zu sein, impliziert eine gewisse Schicksalshaftigkeit. Dafür kann niemand etwas, es erscheint unabänderlich. Man merkt schnell: Die Frage nach dem Sinn für die oder den Einzelne*n und für die Gesellschaft wird vollkommen ausgeblendet. Niemand fragt mehr nach den Schäden und damit auch Kosten des Kfz-Verkehrs, vom Flächenverbrauch bis zur Gesundheitsbelastung.

Nach dem KFZ-Kostenrechnungsmodell von Stefan Gössling, Professor an der Linnaeus Universität/ Lund Universität Schweden, kostet ein Autokilometer (pkm) die Gesellschaft etwa 20 Cent pro Person, ein Radkilometer jedoch repräsentiert einen gesellschaftlichen Nutzen von etwa 30 Cent. Zählt man alle externen Kosten hinzu, stellt sich zurecht die Frage, wie Autofahrende rechtfertigen, mit welchem Recht sie der Gesellschaft durch ihr Handeln diese immensen Kosten aufhalsen. Eine Antwort auf diese Frage steht noch aus.

Vom Schulweg auf den Weg in die Zukunft
Absurderweise wissen wir mehr oder weniger, was jede*r Einzelne für mehr Klimaschutz tun kann. Energiesparen zu Hause, in der Arbeit und in der Freizeit, weniger Autofahren oder gar den Pkw abschaffen beziehungsweise teilen – gefolgt von weniger fliegen, nachhaltige, fleisch- und verpackungsarme Lebensmittel genießen, Gegenstände reparieren und recyclen, statt neu zu kaufen und so weiter. Menschen, die bereit sind, diese Schritte zu gehen, sind selten weniger bequem als andere. Der entscheidende Unterschied ist, dass sie die Sinnfrage anders beantworten als zum Beispiel SUV-Fahrer*innen, die auch „nur das Beste" für ihre Kinder wollen, nämlich Sicherheit. Deshalb bringen sie die Kleinen in überdimensionierten Elterntaxis zur Schule, während andere mehr Sinn darin sehen, wenn ihre Kinder zur Schule laufen oder mit dem Rad fahren. Nach deren Ansicht tun die Kinder damit etwas für ihre Gesundheit und können ihre sozialen Kontakte auf dem Schulweg pflegen. Sinn kann man offensichtlich unterschiedlich definieren. Solange es auf diese und ähnliche Sinnfragen für viele Menschen keine gemeinsamen Antworten gibt, werden wir unser kollektives Verhalten und unsere Einstellung nicht ändern. Die gesellschaftliche Transformation gelingt aber erst, wenn es eine politische Mehrheit dafür gibt. Erst dann erinnern sich Politik und Verwaltung an ihre klimapolitischen Versprechen. Erst dann müssen wir nicht mehr darüber reden, wer zu bequem oder zu egoistisch ist, sondern wir reden dann über konkrete und schnelle Lösungen einer lebensbedrohenden Krise und von einer Zukunft, die uns alle angeht.
 
Die gesellschaftliche Transformation gelingt erst, wenn es eine politische Mehrheit dafür gibt

Von den Fragen zu den Antworten
In Bezug auf unsere Mobilität stellen sich dann plötzlich ganz neue Fragen, etwa:
Mit welchem Verkehrsmittel fahre ich zur Arbeit und in den Urlaub? Wann und wie oft und wozu brauche ich ein Auto? Welche Strecken lege ich täglich zurück und wie viele Fahrten könnte ich vermeiden? Aber auch wirtschaftliche Fragen stehen plötzlich in einem ganz anderen Licht: Wie wird sich der Gebrauchtmarkt für Autos mit Verbrennermotoren in den nächsten Jahren entwickeln? Kann ich meinen Wagen realistischerweise in fünf Jahren überhaupt noch verkaufen? Wie lange gibt es noch Tankstellen oder Werkstätten?

Auch das gegenwärtige System wird hinterfragt. Zum Beispiel wenn man sich trotz Kaufprämien kein E-Auto leisten kann: Warum wird nicht auch ein gutes E-Bike entsprechend gefördert? Warum sind die Preise des ÖPNV in den letzten 20 Jahren um fast 79 Prozent gestiegen, die für den Kauf und die Unterhaltung von Kraftfahrzeugen dagegen nur um gut 36 Prozent? Wann werden das Zufußgehen und Radfahren endlich sicherer und komfortabel und wo ist der Unterschied zwischen 15 und 16 Cent CO2-Preiserhöhung?

Die Antwort auf die letzte Frage lautet natürlich „nur 1 Cent" – die politischen und wirtschaftlichen Implikationen dagegen sind immens. Auch zu allen anderen Fragen gilt es, schnell und gleichzeitig mit großem Weitblick Antworten zu finden, denn reiner Greenwashing-Aktionismus bringt uns nicht weiter. Doch viele Antworten und Lösungen sind längst gefunden. Die Initiative „Klimawende von unten" präsentiert zum Beispiel zahlreiche, deutschlandweite Initiativen, denen man sich anschließen kann. Ihr Klimawende-Handbuch ist dort kostenlos oder gegen eine Spende zu bestellen und vielleicht starten Sie damit ja selbst eine Klimawende-Kampagne. Inspirationen zum Wandel und zur Verkehrswende finden Sie auf zahlreichen Internetseiten und dann, ja dann kommt es nur noch auf Sie an, Bequemlichkeit neu zu definieren.


Ragnhild Sørensen ist Pressesprecherin von Changing Cities e. V., dem Verein hinter dem Berliner Volksentscheid Fahrrad. Sie ist in Kopenhagen geboren und fährt seit ihrem zweiten Lebensjahr Fahrrad.

Gesellschaft | Politik, 13.09.2021
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 03/2021 mit Heft im Heft zur IAA Mobility - KRISE... die größte Chance aller Zeiten erschienen.
     
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