Mobilität der Zukunft
Ruedi Blumer, Präsident des VCS (Verkehrsclub der Schweiz) im forum-Interview
Krisen, Folgen und Chancen. Die Mobilität der Schweiz muss neu gedacht werden. Ruedi Blumer erklärt, wie das funktionieren kann.
Wie hat sich die Mobilität in der Schweiz in den letzten 18 Monaten während der Pandemie verändert?
Die Pandemie hat deutliche positive und negative Folgen auf die Mobilität gezeitigt, wobei die positiven klar überwiegen: Gut fürs Klima und eine Chance zur Rückbesinnung auf vernünftiges Verhalten betreffend Flugreisen ist der Einbruch der viel zu billigen Fliegerei. Die Mobilität hat dank Home-office und Videokonferenzen deutlich abgenommen, das gesunde und klimafreundliche Velofahren erlebt einen gewaltigen Boom. Negativ ist der erhebliche Rückgang im öffentlichen Verkehr (öV) auf Schiene, Straße und Wasser. Unerfreulich ist dabei insbesondere, dass ein Teil der verlorenen öV-Frequenzen nicht durch Home-office, E-Scooter oder Velo, sondern durch zusätzliche Pkw-Fahrten kompensiert werden.
Die Pandemie bietet eine exzellente Chance für Verhaltensänderungen und Lerneffekte betreffend Klima, Raumnutzung sowie Arbeitswege und Freizeitgestaltung. Positiv ist die Zunahme von Sharingangeboten bei E-Scootern, Fahrrädern, Lastenvelos und Autos, Taxiunternehmungen hingegen mussten einige aufgeben.
Wird dies dauerhaft sein?
Ja und nein. Geschäfts- und Businessflüge werden nie mehr das Volumen von vor der Pandemie erreichen. Videokonferenzen werden viele dieser Flüge dauerhaft ersetzen. Der öV auf Straße, Schiene und Wasser wird sich langsam erholen und das Vor-Corona-Niveau mittelfristig insgesamt übertreffen, und dies mit geglätteten Verkehrsspitzen. Der Veloboom wird anhalten und der Druck zur Erstellung eines attraktiven und sicheren Velowegnetzes für Arbeits- und Freizeitverkehr wird steigen. Die Sharingangebote werden weiter zunehmen, die Taxidichte weiter abnehmen.
Welche Mobilität wünscht sich der VCS für die Zukunft der Schweiz?
Um die weltweite Klimakatastrophe abzuwenden, muss auch die Schweiz ihren Beitrag leisten, und da liegt der wichtigste und dringendste Handlungsbedarf bei der Dekarbonisierung des Verkehrs auf der Straße, in der Luft und auf dem Wasser. Wobei der 1:1-Umstieg vom Verbrenner-Pkw zum E-Auto nicht die Lösung ist. Der VCS wünscht sich Vermeidung, Verlagerung, Verbesserung und Vernetzung des Verkehrs. Oder anders gesagt, weniger Motorisierter Individualverkehr (MIV) durch bewussten Autoverzicht, Home-office oder Velo bzw. öV statt Auto für den Arbeitsweg, Einkauf am Wohnort mit Velo(anhänger) oder Hauslieferdienst. Das Transportangebot für Velos in den Zügen und das Lösen von internationalen Zugtickets muss rasch und deutlich verbessert werden. Das Fliegen muss viel teurer werden und das Nachtzugangebot wesentlich ausgebaut werden. Das digitale Ticketing für internationale Zugreisen muss deutlich verbessert und vereinfacht werden. So kann innerhalb Europas Zug statt Flug weitgehend zum Regelfall werden.
Welche Mobility-Trends sehen Sie bereits jetzt und welche unterstützen Sie?
Der Velo- und E-Bike-Boom ist sehr erfreulich und wird vom VCS voll unterstützt. Damit dieser anhält, muss die Veloinfrastruktur für den Alltags- und Freizeitverkehr schnell und deutlich verbessert werden. Mit dem neuen Veloweggesetz werden die Grundlagen dafür gesetzt. Bei der baulichen Realisierung ist auch die Umnutzung von MIV-Spuren und oberirdischen Parkplätzen in Flächen für Velos, öV oder Grünbereiche mit Bäumen eine wichtige und lenkende Aufgabe.
Generell Tempo 30 innerorts wollte der VCS bereits vor 20 Jahren mit seiner Volksinitiative „Straßen für alle" einführen. T30 ist die günstigste und nachhaltigste Lärmschutzmaßnahme und erhöht Sicherheit und Aufenthaltsqualität. Im Ausnahmefall kann auf verkehrsorientierten Straßen Tempo 50 belassen werden und vielerorts werden weitere Begegnungszonen mit Tempo 20 und Fußgänger*innen-Vortritt eingerichtet werden. In den großen Städten und später auch in den Agglomerationen werden immer mehr Leute auf ein eigenes Auto verzichten, folglich werden die beinahe autofreien Überbauungen erfreulicherweise zunehmen. Gegenüber den Sharingangeboten von E-Scootern bin ich eher skeptisch, da Konflikte mit den Fußgänger*innen und ein ungeordnetes „Herumliegen" dieser Gelegenheitsfahrzeuge droht. Die nötige Elektrifizierung des MIV ruft nach Ladeinfrastruktur. Diese muss durch Private (Arbeitgeber*innen, Immobilienbesitzer*innen, Energie-Unternehmungen) finanziert, erstellt und betrieben werden und nicht durch die öffentliche Hand. So wie das auch bei den herkömmlichen Tankstellen der Fall ist.
Zur Herausforderung „Mobilität auf dem Land": Welche neuen Mobilitätsformen unterstützt der VCS für den ländlichen Raum?
Zunächst ist festzuhalten, dass die Bevölkerung in den Städten und Agglomerationen wohl weiter zunehmen wird, auf dem Land hingegen eher stagnieren oder gar abnehmen wird. Das ist aus Sicht des Raumplanungsgesetzes gewollt, um die Zersiedelung der Schweiz zu stoppen. Fahrgemeinschaften, Velos und insbesondere E-Bikes sind auch auf dem Lande angesagt. Der öV muss auch das Land gut erschließen, wobei bei ausgedünntem oder fehlendem Fahrplan wegen zu tiefer Frequenzen ein Rufbus oder Ruftaxi angeboten werden soll. Der Bus alpin, der vom VCS mitgetragen wird, ist ein Beispiel, das in diese Richtung geht.
Zur Herausforderung „Stadt der Zukunft": Wie wird sich die Mobilität in der Stadt verändern und welche Stoßrichtungen unterstützt der VCS hier?
In der Stadt ist der Platz begrenzt. Es ist darum logisch und erwünscht, dass die Mobilität platzsparend erfolgt, also zu Fuß, mit Velo oder öV und nicht mit dem Auto, außer es sitzen mehrere Personen im Fahrzeug oder es müssen Waren transportiert werden. Mehr als die Hälfte der Stadtbewohner*innen besitzen kein eigenes Auto mehr und dieser Trend wird sich fortsetzen. Somit sind in den Städten zunehmend autofreie Siedlungen gefragt. Bei der öV-Nutzung und bei Sharingangeboten wird die Digitalisierung weitere Fortschritte erzielen. Dieselbusse werden durch Elektrobusse oder Tram ersetzt, ein wesentlicher Teil der City-Logistik wird mit Elektrofahrzeugen erfolgen, zunehmend auch mit Cargobikes oder E-Bikes bzw. E-Mofas mit Anhänger. Aus Klima- und Lärmgründen strebt der VCS in den Städten flächendeckend Tempo 30, mehr Begegnungszonen und Grünflächen sowie eine kontinuierliche Reduzierung der oberirdischen, öffentlichen Parkplätze an.
Wie arbeitet der VCS international im D-A-CH-Raum mit dem VCD und VCÖ zusammen? Was steht auf der gemeinsamen, internationalen Agenda?
Wir treffen uns jährlich zum Austausch. Gemeinsame Interessen und Ziele sind etwa die Veränderung des Modalspits zu Gunsten des Veloverkehrs und zu Lasten des MIV. Das Angebot der Bahn im Fernverkehr muss bei Tag und Nacht verbessert werden, ebenso das Buchen von Europareisen per Bahn und die Velomitnahme. In unserem gemeinsamen Interesse sind auch Flugticket- und Kerosinabgabe auf Flugreisen, die weitere Senkung des zulässigen CO2-Ausstoßes bei Fahrzeugen bzw. das Verbot von Verbrennungsmotoren bis Anfang der 30er Jahre bei neuen Fahrzeugen. Wichtig ist uns auch, dass die natürlichste Art der Fortbewegung, das zu Fuß Gehen, nicht zu kurz kommt und dafür genug Platz vorhanden ist. Konkret bedeutet das mehr Fußgängerzonen und weniger oberirdische Parkplätze.
Last but not least: Wie ist Ihre Vision der Mobilität der Zukunft?
Bei Visionen darf man auch etwas träumen: Die Lärmschutzmaßnahmen sind überall umgesetzt. Folglich gilt innerorts generell Tempo 30 und Bewohner*innen und Besucher*innen freuen sich über die hohe Aufenthaltsqualität. Diese ist den attraktiven Begegnungszonen, Spielplätzen, Grünflächen, Einkaufs-, Gastro-, Sport- und Kulturangeboten zu verdanken. Der Verkehr ist fossilfrei und flächeneffizient. Darum gibt es keine Verbrennungsmotoren mehr, Autos (und Parkplätze) gibt es viel weniger, weil sie geteilt werden und kaum mehr jemand alleine und ohne viel Material im Auto unterwegs ist. Waren werden unter- und oberirdisch zunehmend auf der Schiene transportiert und bei der Citylogistik kommen Velokuriere, Cargobikes und weitere platzsparende E-Fahrzeuge zum Einsatz.
Der Flugverkehr im dreistelligen Kilometerbereich ist massiv reduziert, die Billigflieger gibt es nicht mehr, dafür bieten die Bahnen attraktive internationale Angebote bei Tag und Nacht an. Dank Home-office, Videositzungen, flexiblen Teilzeitarbeitsmodellen, kürzeren Arbeits- und Einkaufswegen, die immer öfter mit dem Velo zurückgelegt werden, gibt es mehr Velo-, Fuß- und Grünflächen. Reduziert sind hingegen die Flächen für den MIV und dennoch gibt es keinen Stau, da die Menschen ihr Mobilitäts- und Konsumverhalten klima- und raumgerecht verändert haben. Unterstützt wird dieser Zuwachs an zukunftsgerechtem Verhalten durch deutlich höhere Energiepreise. Kurze Wege und geringer Energiekonsum bedeuten Lebensfreude und Zeitgewinn.
Dass ich mit meiner Vision nicht alleine bin, zeigt eine repräsentative Umfrage von Deloitte vom Mai 2021. Zwei Drittel der Bevölkerung möchten den privaten Autoverkehr reduzieren, drei Viertel erwarten vom Arbeitgeber vergünstigte öV-Abos und 56 Prozent wünschen Unterstützung für die Velofahrenden.
Ruedi Blumer ist Schulleiter in Wil, SP-Kantonsrat, Co-Präsident VCS St.Gallen-Appenzell, Präsident Mieter/innen-Verband Ostschweiz und Präsident Verkehrs-Club der Schweiz.
Technik | Mobilität & Transport, 30.09.2021
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