Eine gemeinsame Vision entwickeln
Christoph Quarch hofft auf den Mut der potenziellen Koalitionäre in Berlin
Deutschland hat gewählt, das Ergebnis liegt vor. Doch wer künftig regieren wird, steht in den Sternen. Nun stehen Koalitionsverhandlungen an – und so mancher zuckt innerlich zusammen, wenn er dieses Wort hört. Noch ist vielen das zähe und teilweise qualvolle Ringen um eine Regierungsmehrheit nach der Bundestagswahl vor vier Jahren in Erinnerung. Das, da sind sich die meisten Kommentatoren einig, darf sich 2021 nicht wiederholen. Zu viele dringende Aufgaben stehen an, als dass sich Deutschland eine längere Auszeit vom operativen Regierungsgeschäft gönnen könnte. Also mehren sich die Appelle an die potenziellen Koalitionäre, zügig und zielstrebig an einer Regierungsmehrheit zu arbeiten. Kann da die Philosophie helfen?
Herr Quarch, wenn Sie den Verhandlungspartnern beratend zur Seite stünden, was würden Sie ihnen empfehlen?
Ich würde ihnen zunächst einmal ein Wort meines philosophischen Lehrers Hans-Georg Gadamer ins Stammbuch schreiben. Hochbetagt, wie er war, als ich für ihn arbeiten durfte, wies er unablässig darauf hin, wie wichtig es für das demokratische Gemeinwesen ist, die Kunst des ergebnisoffenen Gesprächs zu kultivieren. Und das wichtigste dabei, so lehrte er, sei es, ein Gespräch in der Grundhaltung zu beginnen, dass es sein könne, dass man nicht selbst, sondern dass der andere Recht hat. Das aber erfordere alle voran die Bereitschaft, wirklich auf das hören, was der andere sagt, und ihn nicht in das Korsett dessen zu zwingen, was man von ihm erwartet.
Aber ist es nicht illusorisch zu glauben, dass bei
Koalitionsverhandlungen so etwas möglich ist. Die Top-Politiker, die am
Verhandlungstisch sitzen, kennen gar nichts anderes, als Taktik und Strategie.
Gespräche führen heißt für sie allem voran: sich durchsetzen.
Da
liegt das Problem. Deshalb wäre es wichtig zu beherzigen, was Gadamer den
„Primat der Frage" nannte. Für kontroverse Diskurse empfahl er, den Fokus
darauf zu legen, Fragen zu stellen anstatt mit fertigen Antworten aufzuwarten:
„Wie seht ihr das?" „Was ist für euch nicht verhandelbar?" Auf diese Weise
öffnet man einen gemeinsamen Gesprächsraum, in dem es dann auch möglich ist,
sich gemeinsam auf die zentralen Fragen und Aufgaben der künftigen Regierung zu
verständigen. Erst wenn das geschehen ist, sollte man damit beginnen, die eigenen,
möglicherweise kontroversen Antworten oder Lösungen einzubringen. Solange man
sich dabei über die Fragen einig ist, wird es möglich sein, gegensätzliche
Sichtweisen auszuhalten und gegebenenfalls nebeneinander stehen zu lassen.
Das reicht aber nicht für eine gemeinsame Regierung. Dafür
braucht man doch sehr wohl ein klares Programm, was man gemeinsam tun und
erreichen will.
Unbenommen.
Aber ohne sich auf einen gemeinsamen Fragehorizont verständigt zu haben, wird
man zu einem solchen Programm nicht kommen. Natürlich muss ein gemeinsamen
Programm am Ende stehen. Robert Habeck hat das in einem Interview sehr klar
benannt, wenn er sagte, bei Koalitionsverhandlungen müsse es darum gehen, eine
gemeinsame Vision zu entwickeln und nicht die Spiegelstriche auf der
Wunschliste abzuarbeiten. Eine gemeinsame Vision wäre in der Tat das ideale
Ergebnis. Und es ist nicht unmöglich das zu erreichen, wenn die potenziellen
Koalitionäre den Mut aufbringen, sich auf ihre Kernthemen zu fokussieren und
den anderen Raum für deren Kernthemen zu gewähren.
Sehen Sie angesichts der möglichen Verhandlungspartner eine
reelle Chance zu einer durch eine solche gemeinsame Vision geeinten Koalition?
Ja,
ich glaube, die Chancen dafür stehen sehr gut, sofern es sich um die Ampel handelt.
Erstens wäre es eine Koalition der Wahlgewinner, die es sich bei
Koalitionsgesprächen – anders als die Union – erlauben können, hier und da
zurückzustecken. Zweitens gibt die Konstellation allen drei Parteien die
Chance, sich auf ihrem ureigenen Feld mit ihren Kernthemen zu profilieren: die
Grünen mit Klimapolitik, die Liberalen mit digitalem Wandel und Ökonomie, die
SPD mit Sozialpolitik. Sie könnten einander machen lassen und die je anderen
dabei gut aussehen lassen, ohne ihre eigene Glaubwürdigkeit zu gefährden. Die
perfekte Win-Win-Situation. Und die SPD bekommt den Kanzler-Sonderbonus, sofern
Scholz dieses Trio erfolgreich dirigieren könnte. Vor allem aber würde das Land
profitieren.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
Gesellschaft | Politik, 04.10.2021
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