"Ask Delphi"- Bots können nur rechnen aber kein Gewissen ersetzen
Christoph Quarch will Entscheidungen ethischer Fragen nicht Algorithmen überlassen
Soll ich etwas tun, oder es doch besser lassen? Was ist richtig, was ist falsch? Oder vielleicht sogar: Was ist gut und was ist böse? Fragen wie diese beschäftigen nicht nur den Ethikrat. Jeder kennt sie – und jeder hat sich schon mal die Haare gerauft, wenn es darum ging, die richtige Antwort zu finden. Was tun in solchen Fällen? Vielleicht einen Freund oder eine Freundin um Rat fragen – jemanden, der die Sache mit nüchternen Augen anschaut?
Neuerdings gibt es eine andere Option: Man wendet sich an Delphi. Nein, nicht an das antike Orakel. „Ask Delphi" ist ein Bot, der mit mehr als 1,7 Millionen Beispielen für ethische Urteile zu alltäglichen Fragen und Szenarien gefüttert wurde. Man muss nur die entsprechende Seite aufrufen, eine ethische Frage formulieren – und sogleich ermittelt ein Algorithmus, was gut oder was schlecht ist.
Herr Quarch, wird Delphi uns künftig die mühsame ethische Urteilsfindung abnehmen?
Es wäre schlimm, wenn es dazu kommen sollte. Ethische Fragen mithilfe von Algorithmen zu beantworten, scheint mir gefährlicher Weg zu sein. Man muss sich ja nur klar machen, wie das Ganze funktioniert. Der Bot wird mit ethischen Urteilen von Millionen von Menschen gefüttert und berechnet dann auf Grundlage dieser Daten, wie eine Frage zu beantworten ist. Was dabei herauskommt ist im Idealfall aber nichts anderes als die Applikation der mutmaßlichen moralischen Werte der Nutzer auf ein konkretes Problem. Wenn der Bot ehrlich wäre, dürfte er deshalb niemals sagen: „Es ist okay" oder „Es ist falsch", sondern allenfalls: „Wenn ich all das zusammennehme, was diejenigen denken, mit deren Daten ich gefüttert wurde, dann würden diese sich vermutlich mehrheitlich darauf einigen können, dass…" Das hat aber nichts mit einem moralischen Urteil zu tun.
Aus philosophischer Sicht mag das zutreffen. Aber entspricht der Bot nicht trotzdem der Art und Weise, wie wir Menschen Entscheidungen treffen: nach Maßgabe dessen, was die Mehrheit wohl richtig fände?
Mag sein, aber das spricht nicht für den Bot, sondern gegen diejenigen, die sich bei ihren moralischen Urteilen nur danach richten, was die anderen denken oder von ihnen erwarten. So ein Verzicht auf selbständige, begründete Werturteile ist politisch und gesellschaftlich außerordentlich gefährlich. Er ebnet jeder Form von Totalitarismus den Weg: Man verhält sich so, wie man sich verhalten zu müssen meint. Und wenn man zur Rede gestellt wird, dann hat man selbst keine Schuld und ist auch nicht verantwortlich – sondern verantwortlich sind die anderen: das große Man, an dem man Maß genommen hat. Solche Argumentationen kennt man von Nazi-Größen oder Kriegsverbrechern, die vor Gericht gestellt wurden. Wenn „Ask Delphi" Schule macht, dann werden die Mitläufer sich künftig auf den Bot berufen und sich so ihrer Verantwortung entziehen.
Aber es ist doch nicht falsch, in schwierigen Lagen bei – sagen wir mal: objektiven – Gutachtern Rat einzuholen. Und mehr nimmt „Ask Delphi" auch gar nicht für sich in Anspruch. Ganz so wie das antike Orakel, das die Menschen ja auch konsultierten, um Wegweisung und Rat zu bekommen.
Ja, aber da gibt es einen großen Unterschied, der uns vor Augen führen kann, warum der „Ask-Delphi"-Bot so problematisch ist: Das Orakel von Delphi beantwortete die Fragen des „Soll ich?" oder „Darf ich?" nicht mit einfachen Antworten wie „Ja" und „Nein". Im Gegenteil: Es antwortete mit rätselhaften Sätzen, die den Ratsuchenden dazu zwangen, noch einmal gründlich nachzudenken. Als Kroisos fragte, ob er die Perser angreifen solle, sagte das Orakel, er werde ein Reich zerstören, wenn er den Grenzfluss überschreitet. So kam es. Er zerstörte ein Reich – sein eigenes. Hätte er nachgedacht, es wäre ihm womöglich anders ergangen. Worauf ich hinaus will: Moralische Fragen können nur durch eigenes Denken gelöst werden aber nicht durch algorithmische Berechnungen.
Sie selbst haben ein Buch mit dem Titel „Kann ich, darf ich, soll ich?" geschrieben, worin Sie moralische Fragen mit „Ja" oder „Nein" beantworten. Was ist daran besser als ein Bot?
Dass ich meine Antwortvorschläge begründe und diese Begründungen zur Diskussion stelle. So lade ich die Leser ein, mitzudenken oder nachzudenken, um dann selbst urteilen zu können. Dabei rückt die Begründung das Urteil in einen größeren Zusammenhang, gibt die Werte und Prinzipien zu erkennen, auf denen es gründet; oder sie bindet das Urteil zurück an eine grundlegende Idee davon, was das menschliche Leben gelingen lässt bzw. worin Würde und Sinn des Lebens bestehen. All das kann ein Bot nicht leisten. Er kann nur rechnen, aber er kann nicht einmal ahnen, was es heißt, um den Sinn des Lebens zu ringen – oder einem Gewissen zu entsprechen. Solange das alte Orakel geschlossen ist, sollten wir darauf verzichten, bei moralischen Fragen Delphi zu konsultieren. Wir könnten sonst das Denken verlernen.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
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