Hinter dem Problem der Wohnungsnot steckt auch eine Gesellschaft, die gerne wegschaut...
Christoph Quarchs Gedanken beim Besuch in der Obdachlosen-Metropole Hamburg
Weihnachten, das Fest der Liebe, steht vor der Tür. Es ist nicht unüblich, sich in dieser Zeit ein bisschen mehr als sonst für seine Mitmenschen zu interessieren: auch für diejenigen, auf die man sonst wenig Gedanken verwendet. Die Obdachlosen zum Beispiel, deren Zahl in Deutschland auf derzeit knapp eine Million Menschen geschätzt wird. Tendenz steigend. Grund dafür ist nicht nur Covid, sondern sind vor allem die steigenden Mieten in städtischen Ballungsräumen. Die Ampelkoalition will dem durch verstärkten sozialen Wohnungsbau begegnen. Doch ob das reichen wird, ist fraglich. Hinter dem Problem der Wohnungsnot steckt auch eine Gesellschaft, die gerne wegschaut, wenn’s um Obdachlose geht. Wir schauen genauer hin und fragen unseren Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, was sagt es über unsere Gesellschaft, wenn die Zahl der Wohnungslosen steigt?
Nichts Gutes. Es verrät, dass etwas mit der Wohlstandsverteilung nicht stimmt; dass etwas mit dem Wohnungsmarkt nicht stimmt; dass etwas mit der Solidarität nicht stimmt – und dass die Politik in den vergangenen Jahren diesbezüglich nicht nur geschlafen, sondern auch fundamentale Fehler begangen hat. Nehmen wir den sozialen Wohnungsbau. Wenn man überhaupt noch Sozialwohnungen gebaut hat, dann unter der Auflage, dass sie nach zehn Jahren an private Träger übergeben werden müssen. Was für ein Wahnsinn! Für diejenigen, die in diesen Wohnungen leben, jedenfalls eine Zumutung, denn dass dann nach 10 Jahren die Mietpreise nach den Gesetzen des freien Marktes durch die Decke gehen, ist absehbar. Folge: Auch Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, finden keine Wohnung mehr und landen auf der Straße.
Sozialer Wohnungsbau ist teuer und die meisten Kommunen sind ohnehin klamm.
Da bin ich mir ehrlich gesagt nicht so sicher. Ich war gerade in Hamburg – einer Stadt, in der Sie inzwischen an jeder Ecke einen Obdachlosen finden. Und was erfahre ich da: Der Hamburger Senat hat seit Beginn der Corona-Pandemie rund 25 Millionen Euro an externe Berater gezahlt; und zwar, um die finanziellen Hilfen zu organisieren – z.B. die sogenannten Corona-Härtefallhilfen. Von denen wurden im gleichen Zeitraum gerade mal 70.000 Euro ausgezahlt. 70.000 Euro für hilfsbedürftige Bürger, 25 Millionen – größtenteils – für Wirtschaftsprüfungsgesellschaften! Und das in Hamburg, der Obdachlosen-Metropole. Da ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Das musste ich jetzt loswerden.
Okay, aber es gibt doch jede Menge Hilfs- und Beratungsangebote für Wohnungslose, die oft gar nicht abgerufen werden. Man muss nicht auf der Straße landen, wenn man in soziale Schieflagen gerät.
Das stimmt, es landen ja auch nicht alle auf der Straße. Manche Wohnungslose leben im Camper vor den Toren der Stadt oder in Sammelunterkünften. Aber das löst das Problem nicht. Das Problem wäre – nach einhelliger Expertenmeinung – nur so zu lösen, dass sich Städte und Kommunen mithilfe von Bundesmitteln wieder massiv des sozialen Wohnungsbaus annehmen. Aus den USA ist bekannt, dass die wichtigste Voraussetzung für eine Rückkehr von der Straße in die Gesellschaft eine eigene Wohnung ist. Man hat dort mit dem „Housing-First"-Konzept gute Erfolge erreicht. Daran sollten wir uns in Deutschland orientieren.
Die Ampelregierung hat in den Koalitionsvertrag einen nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit aufgenommen. Pro Jahr sollen 100.000 Sozialwohnungen neu geschaffen werden. Ist das der richtige Weg?
Es ist ein Anfang. Ob das reichen wird, weiß ich nicht, denn die soziale Schere öffnet sich immer mehr. Vielleicht muss man doch noch einmal über Enteignungen von unzureichend genutztem Wohnraum nachdenken; oder über Programme, die verhindern, dass – wie in Deutschland üblich – wohlhabende Singles weit überdurchschnittlich viel Wohnraum für sich allein beanspruchen. Was ich damit sagen will. Der Fisch stinkt wie so oft vom Kopf her – und zwar von eines jeden einzelnen Bürgers Kopf her. Wir sollten uns – nicht nur vor Weihnachten – fragen, ob es nicht höchste Zeit ist, von unserem Wohlstand und Wohnraum mehr abzugeben und uns den Hundertausenden solidarisch zeigen, die zu unfreiwilligen Opfern eines perversen Marktes geworden sind.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
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