Weihnachtsgans, Familienfest, Krippenspiel und Kirchgang...
Wo sind die Kirchen in der Pandemie? Christoph Quarch im Weihnachtsinterview
Weihnachten. So vielfältig die Menschen, so unterschiedlich die Assoziationen, die dieses Wort bei vielen auslöst: Die einen denken an Weihnachtsbaum und Gabentisch, die anderen an Weihnachtsgans und Familienfest – und wieder andere an Krippenspiel und Kirchgang, ja an Religion. Tatsächlich sind die Kirchen nach wir vor an Weihnachten deutlich voller als sonst. Auch ansonsten nicht sonderlich religiöse Menschen besuchen während der Festtage den einen oder anderen Gottesdienst. Ist das eine nostalgische Anwandlung oder sind wir vielleicht doch religiöser als wir glauben? Über diese Fragen reden wir mit unserem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, lassen Sie uns heute mal die Gretchen-Frage stellen: Wie hältst du’s mit der Religion? Werden Sie an Heiligabend in die Kirche gehen?
Nein, werde ich nicht. Bis letztes Jahr war das noch anders. Da war der Kirchgang ein fester Bestandteil des Heiligabend-Rituals. Aber nun sind die Kids junge Erwachsene, die dort nichts mehr hinzieht. Auch ich muss gestehen, dass ich mich in der Kirche immer weniger wohlfühle. Nicht nur an Heiligabend. Was dort gesagt und getan wird, erreicht mich nicht mehr – weder intellektuell noch emotional. Von spirituell, was ja eigentlich das kirchliche Kerngeschäft wäre, ganz zu schweigen. Und das geht nicht nur mir so. Auch im letzten Jahr haben wieder eine knappe Million Menschen den Kirchen den Rücken gekehrt. Mich wundert das nicht.
Naja, aber die Zahl der Kirchenaustritte ist im Covid-Jahr um fast 20 Prozent zurückgegangen. Und immerhin sind noch gut 50 Prozent der Deutschen Mitglied einer Kirche.
Ja, aber mal ganz ehrlich: Es wirft kein gutes Licht auf die Kirchen, wenn ihr in einer Krisenzeit wie dieser immer noch reihenweise die Leute davonlaufen. Noch vor gar nicht langer Zeit wäre das undenkbar gewesen. Da hätten sich die verunsicherten Menschen in den Schoß der Kirche geflüchtet, um geistigen Beistand, Erbauung und Ermutigung zu finden. Heute flüchten sie sich stattdessen in Wissenschaftsgläubigkeit oder Wissenschaftsskepsis und fechten dort quasi-religiöse Glaubenskämpfe aus. Einer der Gründe dafür ist, dass in unserer Gesellschaft ein geistiges Vakuum entstanden ist, das viel damit zu tun hat, dass die Kirchen in der Pandemie verstummt sind bzw. sich vorwiegend mit sich selbst beschäftigen.
Aber es gibt doch viele Menschen, die in den Kirchen durchaus eine Heimat und Kraftquelle finden.
Das will ich nicht in Abrede stellen, ändert aber nichts daran, dass die Kirchen ihre gesellschaftliche Prägekraft verloren haben. Im öffentlichen Diskurs, zum Beispiel in Talkshows, tauchen keine Kirchenvertreter auf – auch wenn sie hinter den Kulissen in Berlin gewaltig mitmischen. Aber das ist eben die merkwürdige Situation der Kirchen. Sie haben politische Macht. Sie haben – dank Kirchensteuern – wachsende Einnahmen trotz rückläufiger Mitgliedszahl. Aber sie erreichen die Menschen nicht mehr. Wenn überhaupt, präsentieren sie sich als moralische Schulmeister oder Anwalt von Randgruppen. Ihr eigentliches Feld jedoch – die Religion – lassen sie brachliegen und erzeugen dadurch dieses für unsere Gesellschaft so gefährliche geistige Vakuum. Denn, um auf die Gretchenfrage zurückzukommen, ich halte es mit der Religion so, dass ich sage: Wir alle brauchen sie dringend.
Damit meinen Sie aber nicht die Kirchen, nehme ich an.
Korrekt. Ich glaube, Menschen brauchen Religion im ursprünglichen Sinne dieses Wortes. Religion kommt von religare: rückbinden. Es geht bei ihr um eine Rückbindung – und zwar um die Rückbindung an etwas, das unserem Leben Sinn und Richtung gibt; an etwas, das größer ist als der Einzelne. Ob man das Gott, Geist, Natur oder den „Großen Himmel" nennt, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass wir uns darin verwurzeln können, dass wir Kraft und Energie, Zuversicht und Mut daraus ziehen; vor allem: dass es uns aus der Selbstbezüglichkeitsfalle befreit, die uns verleitet, alles aus eigenem Willen, eigener Kraft, eigenem Können machen zu wollen. Genau das aber treibt uns ins geistige Vakuum und die Arme der dort spukenden Ideologen. Vielleicht ist das Verstummen der Kirchen ja die heilige Nacht, in der eine neue Art der Religio geboren werden kann.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Megatrends, 20.12.2021
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