Was macht der Krieg mit dem politischen Diskurs in Deutschland?
Christoph Quarch im forum-Interview nach hundert Tagen Krieg in der Ukraine
Seit nunmehr hundert Tagen tobt der Krieg in der Ukraine. Ein Ende ist nicht in Sicht. Derweil hat CDU-Außenexperte Norbert Röttgen im ZDF schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung erhoben und ihr vorgeworfen, die vom deutschen Bundestag beschlossene Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine vorsätzlich zu verschleppen und eine „heimliche Agenda" zugunsten Russlands zu verfolgen. Oppositionsführer Merz schlug bei der Generaldebatte im Bundestag in die gleiche Kerbe. Die Bundesregierung verweist hingegen auf internationale Abkommen und die Tatsache, dass die Bundeswehr nicht über ausreichende Waffen verfügt, die umgehend geliefert werden könnten. Die Auseinandersetzung wird härter. Was macht der Krieg mit dem politischen Diskurs in Deutschland? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, findet der Krieg inzwischen auch in den Köpfen deutscher Spitzenpolitiker statt?

Nun erheben Sie einen schweren Vorwurf gegen Herrn Röttgen. Er wird aber als CDU-Außenpolitiker doch öffentlich seine Meinung zur Regierungspolitik vortragen dürfen.
Was ist Meinung, was ist Unterstellung? Was ist konstruktiv, was ist infam? Röttgens Äußerungen sind Unterstellungen, und sie sind infam, weil sie die nachvollziehbaren Argumente der Bundesregierung ignorieren. Wir alle wissen, dass die Bundeswehr unter Angela Merkel kaputt gespart wurde. Auch Herr Röttgen weiß das. Wir alle wissen auch, dass man Panzer und Haubitzen nicht aus dem Hut zaubern kann. Und wir könnten uns mit Militärs unterhalten, die uns unisono erläutern, warum moderne Waffen nicht so leicht wie eine Kanone in den napoleonischen Kriegen bedient werden können. Kurz: Es gibt gut dokumentierte Fakten, die Herrn Röttgens infame Unterstellungen widerlegen. Trotzdem lassen wir ihn gewähren und fahrlässig die Gesellschaft polarisieren. Ich sage es ungern, aber hier machen sich die Medien mitschuldig.
Die Medien haben aber doch den Auftrag, die Öffentlichkeit zu informieren und die politische Auseinandersetzung zu orchestrieren.
Darüber haben wir während Covid auch diskutiert, sind aber damals zu dem Ergebnis gekommen, dass Verschwörungstheorien keinen Platz in Talkshows und dergleichen haben. Es ist mir unverständlich, warum wir es in einer ungleich gefährlicheren Situation wie jetzt zulassen, dass Oppositionspolitiker Öl ins Feuer gießen. Denn genau das tun sie. Merz und Röttgen unterstellen der Bundesregierung auf eine höchst perfide Weise, Russland in diesem Krieg zu unterstützen und die Ukraine zu schwächen. Das ist offensichtlich parteipolitisch motiviert und hat nichts mit demokratischer Oppositionsarbeit zu tun. Konstruktive Opposition heißt, in einer schweren Krise den inneren Zusammenhalt des Landes stärken und sachlich über die richtigen Schritte diskutieren. Es ist unübersehbar: Die Union ist als Oppositionspartei nur noch peinlich.
Nicht nur die Opposition, sondern auch die Regierungen anderer Länder, vornehmlich in Osteuropa, werfen Deutschland vor, Vereinbarungen nicht einzuhalten und zu wenig für die Ukraine zu tun.
Vermutlich, weil sie sich nicht vorstellen können, dass ein reiches Land wie Deutschland mithilfe von McKinsey und der CDU seine Streitkräfte handlungsunfähig gemacht hat – und weil man nicht versteht, dass Deutschland 75 Jahre nach dem von ihm verursachten Zweiten Weltkrieg nach wie vor in einer anderen militärpolitischen Lage ist als andere europäische Länder. Wollen wir wirklich, dass wieder russische Soldaten durch deutsche Waffen sterben? Das ist nur eine Frage. Ich glaube, dass Olaf Scholz genau das Richtige tut, wenn er – als Kriegspartei, die wir de facto sind – sich bedeckt hält und mit der nötigen diplomatischen Diskretion operiert. Hingegen erschreckt es mich, wenn aus dem Gepolter von Merz und Röttgen im Jahre 2022 wieder der alte deutsche Ruf nach dem starken Mann ertönt. Darüber sollten wir längst hinaus sein.

Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 31.05.2022

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