Freiheit oder Pflicht?
Der Ex-Zivi Christoph Quarch plädiert für ein Pflichtjahr in sozialen, ökologischen oder zivilgesellschaftlichen Einrichtungen
Herr Quarch, darf der Staat seine
Bürgerinnen und Bürger zu Diensten verpflichten?
Selbstverständlich darf er das. Sonst gäbe es keine
Schulpflicht und auch keine allgemeine Wehrpflicht - die ja nie abgeschafft,
sondern nur ausgesetzt wurde. Die Legitimation dafür liegt auf der Hand: In
unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung vertritt der Staat die
Interessen des Souveräns, d.h. des Volkes. Deshalb ist er berechtigt,
Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht zu nehmen, wo es um vitale Interessen des
Gemeinwesens geht wie Landesverteidigung, Bildung und nicht zuletzt die
Pflicht, sich an die Gesetze zu halten. Nach meinem Dafürhalten ist es auch von
existenzieller Wichtigkeit für unser Land, dass grundlegende ethische Kompetenzen
eingeübt und gelebt werden. Ein Pflichtjahr in sozialen, ökologischen oder
zivilgesellschaftlichen Einrichtungen ist dafür das perfekte Instrument.
Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes
Ulrich Schneider lehnt Steinmeiers Vorschlag mit dem Argument ab, soziale und
gemeinnützige Arbeit müssten „von engagierten Freiwillige und Profis mit der
richtigen Ausbildung" geleistet werden.
Ich halte das für ausgemachten Unsinn. Diese These
ignoriert die Jahrzehnte langen guten Erfahrungen mit Zivildienstleistenden in
sozialen Einrichtungen und Kliniken. Ich rede da aus eigener Erfahrung als
Ex-Zivi und weiß, dass wir alle damals sehr schnell eingearbeitet und sehr
motiviert waren. Einfach deswegen, weil soziale Arbeit einen hohen
intrinsischen Wert hat. Ihre Sinnhaftigkeit steht außer Frage, denn sie lebt
von der menschlichen Begegnung. Und dafür braucht man keine lange Ausbildung
und kein Hochschulstudium. Hier spricht einer, der selber „Professionelles
Selbstkonzept der sozialen Arbeit" unterrichtet.
Ginge es nach Steinmeier, müssten junge Menschen
trotzdem ein Jahr ihrer kostbaren Lebenszeit für Aufgaben verwenden, die sie
sich nicht ausgesucht haben.
Und genau darin liegt der große Wert von
Steinmeiers Vorschlag. Es geht bei ihm darum, den Menschen das Dienen
beizubringen – und zwar den Dienst an Werten. Das ist etwas äußerst Kostbares,
denn – wie der Bundespräsident richtig sagt – es stärkt den Zusammenhalt und
den Gemeinsinn: die wichtigsten Ressourcen der Demokratie. Im Dienst an den
Werten unserer Demokratie sind wir alle gleich – so wie wir vor dem Recht alle
gleich sind. Durch eine allgemeine Dienstpflicht werden soziale Silos
aufgebrochen und Parallelgesellschaften geknackt – und das durch Tätigkeiten,
von denen alle profitieren. Dass man Menschen nicht zum Dienst am Gemeinwesen
verpflichten dürfe, ist neoliberaler Unsinn, der am Ende die Erosion der Demokratie
beschleunigt. Unbegreiflich, dass manche Politiker das nicht verstehen.
Aber wenn die jungen Leute das anders sehen. Jusos,
Grüne Jugend und Junge Liberale haben Steinmeiers Vorschlag unisono abgelehnt.
Mir scheint, dass sie damit keineswegs die Jugend
repräsentieren. Ich ziehe seit Jahren mit Steinmeiers Vorschlag durch die Lande
– allerdings ausgeweitet als Europäischer Wertedienst zur Förderung eines
europäischen Bürgerbewusstseins – und weiß aus vielen Gesprächen mit
Jugendlichen, dass sie sich sehr gerne für Ökologie und Gesellschaft einsetzen
wollen; dass sie es satt sind, immer nur Maschinen bedienen zu müssen, anstatt
Menschen zu dienen. Vor allem, wenn sie dabei mit jungen Menschen aus anderen
Ländern zusammenarbeiten können. Aber gut, davon sind wir noch weit entfernt.
Fangen wir erst mal in Deutschland an. Steinmeiers Vorschlag hat meine
100prozentige Unterstützung. Und ich finde Ramelows Idee hervorragend, den
Allgemeinen Wert-Dienst als zusätzliches Schuljahr zur Schulpflicht zu rechnen:
als Praxisjahr im Dienst der Demokratie.
Gesellschaft | Politik, 14.06.2022
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