Hat Verdi den Bogen überspannt?
Christoph Quarch wünscht sich eine pragmatische Lösung für die Lufthansa-Angestellten.
Für viele Geschäfts- und Urlaubsreisende war der Mittwoch ein schwarzer Tag. Als Reaktion auf einen Warnstreik und um drohendes Chaos an Flughäfen zu vermeiden, sah sich die Lufthansa genötigt, mehr als 1.000 Flüge zu streichen. Rund 130.000 Flugreisende mussten ihre Pläne ändern oder absagen. Nachdem es in zwei Tarifrunden nicht gelungen war, eine Einigung zu erzielen, hatte die Gewerkschaft Verdi die Beschäftigten des Lufthansa-Bodenpersonals aufgerufen, die Arbeit niederzulegen. Lufthansa-Vertreter kritisierten den Warnstreik als „unnötig und überzogen". Verdi sieht das anders. Das wirft die Frage auf, wann ein Streik angemessen ist und wann nicht? Darüber sprechen wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, hat Verdi den Bogen überspannt?
Ich fürchte ja. Wir alle haben in den letzten Wochen mit Sorge das Chaos an den deutschen Flughäfen beobachtet. Jetzt sind wir mitten in der Urlaubszeit und es steht zu befürchten, dass es just zum Ferienbeginn in Baden-Württemberg und Bayern an den Flughäfen noch dramatischer wird. Da fragt man sich: Muss das sein? Müssen die unbedingt jetzt streiken, wenn doch klar ist, dass die Hauptleidtragenden die ohnehin schon gebeutelten Fluggäste sein werden? Mir ist schon klar, dass aus Verdi-Sicht der Zeitpunkt günstig ist, da man in einer solchen Situation mehr Druck auf die Lufthansa ausüben kann. Aber ich frage dennoch, wo hier die Solidarität bleibt, die man sonst gern für sich in Anspruch nimmt.
Die Gewerkschaft denkt an diejenigen, die sie vertritt. Das sind 20.000 Beschäftigte des Lufthansa-Bodenpersonals, die wegen Covid über zwei Jahre auf Gehaltserhöhungen verzichten mussten.
Logisch, aber das rechtfertigt nicht einen solchen Warnstreik zu Unzeit – nicht nach erst zwei Verhandlungsrunden, an deren Ende man sich eigentlich schon ziemlich nahe ist. Die Lufthansa bietet je nach Branche Gehaltserhöhungen von 9 bis 11 Prozent bei einer Laufzeit von 18 Monaten. Verdi fordert 9,5 Prozent mehr Lohn und einen Mindeststundenlohn von 13 Euro bei zwölf Monaten Laufzeit. Wenn ich das höre, denke ich mir: Da muss man sich doch in der nächsten Runde einigen können. Jedenfalls verstehe ich nicht, wie der Verdi-Generalsekretär behaupten kann, er sei „offensichtlich nicht ernst genommen" worden. Hallo, ich frage mich, wer hier nicht ernst genommen wird. Ganz sicher nicht die 100.000 Flugreisenden, die sehen mussten, wo sie bleiben.
Verdi weist darauf hin, dass Airlines und Flughafenbetreiber die Krise an den Flughäfen selbst verschuldet hätten. Massiver Personalabbau während der Corona-Zeit habe zu chronischer Überlastung und hohem Krankenstand der Beschäftigten geführt.
Das stimmt. Auch mir fällt schwer zu akzeptieren, dass wir Steuerzahler Millionenbeträge aufgebracht haben, um Entlassungen zu verhindern und dass trotzdem so viele Leute vor die Tür gesetzt wurden. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber das heißt nicht, dass es jetzt Sache einer Gewerkschaft wäre, zu Lasten der Flugreisenden die Unternehmen dafür abzustrafen. Es ist gerade einfach keine Zeit für Abrechnungen oder Machtkämpfe. Jetzt ist nichts anderes gefragt als ein nüchterner Pragmatismus. Und der sucht nach Antworten auf die eine Frage: Wie können wir jetzt und hier noch mehr Chaos an Flughäfen vermeiden? Ein Warnstreik in der Ferienzeit scheint mir da keine gute Antwort.
Nichtsdestotrotz aber ist der Warnstreik rechtens. Wir haben in Deutschland die Tarifautonomie. Wollen Sie die abschaffen?
Auf keinen Fall. Ich bin beileibe kein Gegner von Streiks. Ich bin nur ein Gegner von Unverhältnismäßigkeit – und ein Freund pragmatischer Lösungen. Nach meinem Ermessen ist die Lufthansa den Forderungen von Verdi ziemlich weit entgegengekommen. Trotzdem einen Warnstreik auszurufen und rumzuheulen, man werde nicht ernstgenommen, stimmt für mich nicht. Es nährt den Verdacht, dass hier andere Interessen hineinspielen: dass Verdi zum Auftakt bevorstehender Tarifverhandlungen in anderen Branchen zeigen will, wo der Hammer hängt. Da kommt eine aktuell so sensible Branche wie die Luftfahrt wie gerufen. Aber das ist unanständig, weil auf diese Weise reisende Familien und Geschäftsleute für einen Machtkampf instrumentalisiert werden, der sie nichts angeht. Und es ist dumm: Denn auf diese Weise verspielt Verdi ihre Glaubwürdigkeit.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 30.07.2022
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