Einer für alle, alle für einen

Solidargemeinschaft statt Krankenkasse

Neben der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung gibt es noch die Solidargemeinschaften – ein spannendes drittes Modell, das auf Menschlichkeit, Vertrauen und persönlicher Solidarität fußt.
 
© Anemone123, pixabay.comKaffeekränzchen mit der eigenen „Krankenversicherung" – bei den Gesundheitsvereinen ist es gang und gäbe. Hierbei schließen sich Menschen in kleinen Gemeinschaften zusammen, die in der Regel aus fünf bis dreißig Mitgliedern bestehen und sich regelmäßig persönlich treffen. Diese kleinen, dezentralen Verbünde sind meist in übergeordneten Regionalgemeinschaften zusammengefasst, die wiederum einem Dachverband angehören. Die Mitgliedsbeiträge fließen zum einen an die kleine Gemeinschaft und zum anderen, kleineren Teil, an den Dachverband in einen Notfonds. Wenn eine Gemeinschaft einen Notfall von alleine nicht stemmen kann, wendet sie sich an die übergeordnete Gemeinschaft. Auch teure Behandlungen und Pflegefälle können die Solidargemeinschaften auf diese Weise stemmen. Benötigt ein Mitglied Geld für eine teure Behandlung oder Operation, werden Kostenzusagen in der Regel schnell erteilt, manchmal innerhalb weniger Stunden.

Ein Solidarischer Ansatz
Zu diesen offenen Gesundheitsvereinen zählen Solidago, Samarita und Artabana, die ab Ende der 1990er-Jahre entstanden. Sie alle sind transparent und unbürokratisch. Was bei ihnen vor allem zählt, ist die Solidarität: Die Mitglieder stehen im Krankheitsfall füreinander ein. Gerade dadurch, dass man sich persönlich kennt – zumindest auf der untersten Ebene der kleinen Gemeinschaften – schlägt man den anderen Mitgliedern normalerweise keine Hilfe ab. Auf der anderen Seite ist man dadurch auch nicht geneigt, die Gemeinschaft auszunutzen.

Allen diesen Vereinen gemein ist, dass ihre Unterstützung in der Praxis über das Finanzielle hinausgeht. Die Gemeinschaft vermittelt Geborgenheit, man gibt sich Tipps, tauscht Erfahrungen aus. Erkrankt ein Mitglied, helfen ihm die anderen beispielsweise im Haushalt, wenn dies nötig ist, oder leihen ihm Hilfsmittel. Vertrauen und Menschlichkeit sind also die Grundpfeiler dieser Bewegung, der hierzulande mittlerweile mehr als 20.000 Menschen angehören. Einmal aufgenommen, wirft der Verein ein Mitglied selbst im Falle eines Beitragsrückstands, hoher Krankheitskosten oder mangelnden Engagements nicht wieder hinaus. Wegen dieser persönlichen Nähe und Verbindlichkeit achten die Gemeinschaften in der Regel darauf, wen sie aufnehmen. Manchmal legen sie Probezeiten fest.
 
Die Höhe der Beiträge
Die Beiträge werden nicht nach dem Gesundheitsrisiko des Einzelnen erhoben; es herrscht keine Gewinnerzielungsabsicht. Wonach sich die Beitragshöhe konkret bemisst, ist bei den einzelnen Vereinen unterschiedlich. Bei Samarita richtet sich der Beitrag nach Einkommen und Anzahl der mitversicherten Familienmitglieder. Ein Paar mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 3.000 Euro etwa zahlt monatlich 525 Euro. Davon fließt eine Hälfte auf ein persönliches Konto, über das man frei verfügen kann, der übrige Beitrag fließt in den Solidarfonds. Bei Artabana dagegen können die Mitglieder die Höhe ihrer Beiträge nach eigenem Ermessen selbst festlegen. Meistens sind sie nicht hoch, denn bei Artabana herrscht der Grundsatz: Jedes Mitglied kommt eigenverantwortlich für seine Gesundheitskosten auf und wendet sich nur dann an die Gemeinschaft, wenn es die Kosten für eine Gesundheitsleistung nicht mehr selbst tragen kann. In der Frage, wann dies der Fall ist, vertraut man einander.

Bei allen Solidargemeinschaften entscheiden die Mitglieder selbst darüber, für welche Behandlungen und Therapieformen sie im Krankheitsfall ihr Geld ausgeben wollen – ob für Zahnersatz oder eine Ayurveda-Kur. Es herrscht Therapiefreiheit. Da jedoch die Mitglieder von Solidargemeinschaften oft von vornherein gesundheitsbewusst leben und schulmedizinische Behandlungen seltener in Anspruch nehmen, ist der Kostenaufwand generell viel niedriger als bei regulären Krankenkassen. Durch ehrenamtliches Engagement bleiben ebenfalls die Verwaltungskosten bei allen Solidargemeinschaften überschaubar.

Eine unklare Rechtssituation
Teilweise unklar ist die Rechtslage der Solidargemeinschaften. Laut Sozialgesetzbuch sind Bundesbürger von der Versicherungspflicht nur dann ausgenommen, wenn sie einen „anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall" vorweisen können. Doch an der Interpretation dieses Satzes scheiden sich die Geister. Vereine, die dem Dachverband von Solidargemeinschaften im Gesundheitswesen (BASSG) angehören, sehen die gesetzlichen Anforderungen durch ihre Satzung gewährleistet. Dort heißt es: „Die Mitglieder sichern sich gegenseitig rechtlich verbindlich eine umfassende, flexible Krankenversorgung zu, die in Quantität und Qualität mindestens dem Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht."

Mit dem im Juni 2021 in Kraft getretenen Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungsgesetz machte der Gesetzgeber endlich konkret, unter welchen Voraussetzungen die Solidargemeinschaften als anderweitige Absicherung im Krankheitsfall anzuerkennen sind. Demnach müssen diese ihren Mitgliedern Leistungen in Art, Umfang und Höhe der gesetzlichen Krankenkassen gewähren – wie es der BASSG auch tut. Zudem muss eine dauerhafte Leistungsfähigkeit der Gemeinschaft gegeben sein. Diese ist gegenüber dem Bundesministerium für Gesundheit alle fünf Jahre durch ein versicherungsmathematisches Gutachten nachzuweisen, das von einem unabhängigen Gutachter attestiert werden muss.

Manche Gesundheitsvereine haben den Rechtsanspruch nicht so deutlich formuliert wie die Mitglieder des BASSG. Artabana schließt ihn sogar aus. Denn ein Anspruch schafft eine Anspruchshaltung, während im anderen Fall der Bedarf allein die Grundlage der Kostenerstattungen sein soll, über die persönlich, auf der Grundlage des Vertrauens, in jedem Fall einzeln entschieden wird. In der Regel werden aber auch hier die Kosten immer erstattet.

Ein altes Prinzip mit Zukunft
Der solidarische Ansatz bei der Absicherung für den Krankheitsfall ist nicht neu: Schon vor rund 100 Jahren gab es berufsspezifische Vereine dieser Art, etwa unter Polizisten und Pfarrern, die teilweise bis heute existieren. Die sogenannten berufsständischen Unterstützungskassen trugen schon damals jene Krankheitskosten, für die der Arbeitgeber nicht aufkam. Kann aber das Modell der Solidargemeinschaften ein Rezept für die Masse sein? Die Sprecherin des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV) Ann Marini sagte auf Anfrage über die Solidargemeinschaften: „In kleineren Gemeinschaften kann das Vertrauensprinzip funktionieren, in größeren Gruppen erfahrungsgemäß nicht." Damit hat sie wohl recht. Doch nichts spricht dagegen, dass sich viele Menschen in kleinen Gruppen zusammenschließen und die kleinen Gruppen zu größeren. Solange dies auf einer Basis geschieht, in der sich die Mitglieder freiwillig und bewusst auf die Solidarität einlassen, stellen die Solidargemeinschaften nicht nur eine interessante Option zusätzlich zur regulären Krankenversicherung dar, sie sind auch ein leuchtendes Beispiel für gelebte, echte Solidarität.  
Von Alrun Vogt

Lifestyle | Gesundheit & Wellness, 01.07.2022
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2022 mit dem Schwerpunkt: Wirtschaft im Wandel - Habeck Superstar? erschienen.
     
        
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