"Wenn Kulturschaffende bei allem, was sie tun, die moralische Schere im Kopf aktivieren müssen, gibt es bald keine Kunst und Kultur mehr."
Christoph Quarch hält den Stopp der Winnetou-Veröffentlichungen durch "Ravensburger" für absurd.
Große Aufregung um Winnetou: Auf den bereits von scharfer Kritik begleiteten Kinostart des Spielfilms „Der junge Häuptling Winnetou" folgte nun das Aus von zwei Kinderbüchern, die jungen Leserinnen und Lesern die Neuauflage des Stoffes von Karl May nahebringen sollten. Das Unternehmen „Ravensburger" stoppte die Auslieferung, weil das Feedback von Usern gezeigt habe, dass man mit den Winnetou-Büchern möglicherweise „die Gefühle anderer" verletze. Im Raum stehe vor allem der Vorwurf eines latenten Rassismus gegenüber den indigenen Ureinwohnern Nordamerikas. Die Reaktionen auf die Maßnahme reichen von Entsetzen über Kopfschütteln bis glühender Zustimmung. Wer hat Recht? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr
Quarch, ist es okay eine Buchveröffentlichung zu stoppen, weil man die Gefühle
anderer nicht verletzen will?
Ich halte das schlechterdings für absurd. Niemand
hat ein Recht darauf, sich wohlzufühlen – und niemand ist dazu verpflichtet,
für das Wohlgefühl anderer aufzukommen. Autoren, Verlage und Kulturschaffende
am allerwenigsten. Wenn Kulturschaffende bei allem, was sie tun, die moralische
Schere im Kopf aktivieren müssen, gibt es bald keine Kunst und Kultur mehr. Was
wir hier erleben, ist ein weiteres trauriges Beispiel für eine in den sozialen
Medien wuchernde moralische Hybris von Menschen, die meinen, sich über alle
anderen stellen zu können und sich dabei in Wahrheit immer mehr einer
totalitären Gesinnung nähern.
Ravensburger begründet den Rückzug der
Winnetou-Bücher damit, dass man sich nicht dem Vorwurf von Rassismus oder
kultureller Aneignung aussetzen möchte.
Ich finde es bedauerlich, dass sich ein
renommiertes Unternehmen wie Ravensburger dem Druck einer – wie ich glaube
– kleinen Gruppe von Aktivisten beugt, die sich in der Rolle des Anwalts von
Minderheiten gefällt, ohne je von diesen mandatiert worden zu sein. Was dabei auf
der Strecke bleibt, ist die Urteilskraft. Ich bin kein Karl-May-Fan und habe
auch nicht „Der junge Häuptling Winnetou" angeschaut. Daher kann ich mir kein
Urteil über den Film erlauben. Nichts destotrotz bin ich davon überzeugt, dass
dieser Film nicht dazu beitragen wird, dass die jungen Zuschauer danach
rassistisch auf die indigenen Völker Amerikas herabschauen werden. Eher werden
sie anfangen, sich für deren Geschichte zu interessieren - und für das
beispiellose Unrecht, das den Ureinwohnern Nordamerikas geschehen ist.
Ravensburger hat erklärt, „Der junge Häuptling
Winnetou" zeichne angesichts der Unterdrückung der Indigenen ein „romantisierendes
Bild mit vielen Klischees".
Das mag sein. Schon Karl Mays Winnetou war eine romantisierende Verklärung, die wenig mit der historischen Realität zu tun hat. Aber was ist daran falsch? Wir haben es hier mit Literatur und nicht mit Geschichtsschreibung zu tun. Im Englischen gibt es dafür das Wort „ficton". Es ist eine Fiktion, und Kunst darf verklären, romantisieren und idealisieren wie sie lustig ist. Ob sie das gut oder schlecht macht, steht dann auf einem anderen Blatt. Und natürlich darf sie sich dabei in Stoff und Form bei anderen Kulturen bedienen. Kulturen sind niemandes Eigentum. Ihre Erzeugnisse gehören immer allen. Sie sind ein Schatz der Menschheit. Deshalb gibt es auch so etwas wie ein UNESCO-Weltkulturerbe.
Das heißt, Sie halten den Vorwurf kultureller
Aneignung generell für ungerechtfertigt?
Jein. Berechtigt ist der Vorwurf dort, wo
kulturelle Enteignung geschieht: d.h. wo bestehende Kulturformen,
Kunstwerke, Songs etc. aus einer anderen Kultur ungefragt übernommen und
vermarktet werden. Das ist aber etwas völlig anderes, als sich durch
Kulturerzeugnisse anderer Ethnien oder Zivilisationen in seiner eigenen Arbeit
inspirieren zu lassen. Die Geschichte der Kunst ist voll von Beispielen dafür,
wie sehr die Begegnung mit anderen Kulturen das Kunstschaffen beflügelt hat.
Man tötet jede Kunst, wenn man ihr das verbietet. Die juristischen Kategorien
von Eigentum an Aneignung sind in Bezug auf Kultur fehl am Platze. Sie können
allenfalls für konkrete Werke in Anschlag gebracht werden. Und selbst die sind
streng genommen die Erzeugnisse eines Geistes, der keinem gehört.
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