Krise als Chance

Der aktuelle Kommentar von Christina Christiansen

Ende August endete der Tankrabatt und die Preise an den Zapfsäulen stiegen wieder. Endlich. Während sich Millionen Bundesbürger am Kühlregal ärgern, dass die Butter statt 0,99 Euro nun 2,49 Euro kostet und resigniert den Blick senken, wenn Benzin in ihren Wagen fließt, sollten wir denken: "Was für ein Glück. Gott, das Universum, das Leben, wer auch immer hier das Sagen hat, meint es gut mit uns."

Das chinesische Schriftzeichen für 'Krise' setzt sich aus 'Gefahr' und 'Gelegenheit' zusammen. © Wikipedia.orgJede Krise ist auch eine Chance, sagt der Volksmund. Das chinesische Schriftzeichen für Krise bedeutet sogar gleichzeitig Chance. Doch nach Chance und Glück fühlt sich das erst mal nicht an, was gerade um uns herum passiert. Vielmehr liegen wir nachts wach und fragen uns: Wie soll das noch weitergehen? Kann ich das leisten, was da auf mich zukommt? Im Fernsehen übertrumpfen sich die Schreckensnachrichten gegenseitig und malen schaurige und gleichzeitig unwirkliche Bilder unserer Zukunft. Wie kann daran etwas gut sein?

Krisen als Geschenk 
Doch die Krisen der letzten Jahrzehnte sind noch mehr als Glück und Chance. Sie sind ein Geschenk. Denn der Mensch wird erst aktiv, wenn er selbst konkret betroffen ist. Und solange das eigene Haus noch nicht in Flammen steht, wird weiter Benzin ins Feuer gegossen. So wissen wir: Es ist wichtig, sich gesund zu ernähren, um ein langes, agiles Leben führen zu können. Doch es wird meist erst dringend für uns, wenn jede Treppenstufe zu einem unüberwindbaren Hindernis wird.

Wie können wir es schaffen, dass schon heute aus "wichtig" "dringend" wird und nicht erst, wenn diese Dringlichkeit keine Alternative mehr zulässt?

Die Finanzkrise

Die Finanzkrise 2008 hat uns gezeigt, dass "höher - schneller - weiter" irgendwann zum Zusammenbruch führt. Das ist Kapitalismus in seiner Reinform, bei dem die oberste Prämisse "Umsatz" lautet, egal zu welchen Kosten: Mensch, Gesellschaft, Umwelt. Das "Mehr" führt dazu, dass allein in 2020 rund 180.000 Menschen in Deutschland wegen Burnout krankgeschrieben waren und rund 35 Prozent der Beschäftigten innerlich ausgebrannt sind. Kein Wunder, wenn ein Mitarbeiter nur als Nummer gesehen wird, der immer mehr Arbeit in immer weniger Zeit bei gleicher monetärer und zeitlicher Entschädigung leisten muss.

Gesellschaftlich sehen wir statt wirtschaftlichem Miteinander ein Auseinander. So besitzen 1,1 Prozent der Weltbevölkerung 45,8 Prozent des weltweiten Vermögens. Und zwar nicht, weil 98,9 Prozent däumchendrehend in der Ecke sitzen. Diese physikalische Gleichung neigt sich jedes Jahr ein Stück weiter von waagerecht zu senkrecht. Und die Umwelt bezahlt das "Mehr" mit stillen Feldern, lichten Wäldern und Böden voller Pestizide, die das Grundwasser und das Getreide verunreinigen, welches wir durch Essen und Trinken in unseren Stoffwechsel aufnehmen. Dort setzt es Entzündungsreaktionen in Gang, die das Entstehen von Krebs und Tumoren antreiben.

So wäre die Finanzkrise eine Chance gewesen, unsere Art des Wirtschaftens zu überdenken, neu zu definieren, wie Wohlstand durch ein gemeinsames und wertschätzendes Geben und Neben entstehen kann und so eine neue Ära der Beziehung Unternehmen-Mitarbeiter, Unternehmen-Kunde, Unternehmen-Ressourcen einzugehen.

Die Flüchtlingskrise
Die Flüchtlingskrise 2015 hat Deutschland vor enorme gesellschaftliche und organisatorische Herausforderungen gestellt – die wir bis heute nicht gelöst haben. Doch das war nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was kommen wird. Schreitet der Klimawechsel so weiter wie bisher, ist die Menge an Menschen, die bisher nach Europa kam, nur ein Bruchteil dessen, was sich in den nächsten Jahrzehnten auf den Weg zu uns machen wird. Die Flüchtlingskrise wäre eine Chance gewesen, die tatsächliche Tragweite des Problems zu erfassen und durch Unterstützung institutioneller und organisatorischer Hilfe vor Ort effektive Lösungen zu schaffen.

Die Corona-Krise
Krankheiten wie Schweinepest, Vogelgrippe, SARS oder Aids haben ihre Sendezeit im Fernsehen ausgereizt. Daher erhielten wir 2020 unser bislang größtes Geschenk: Corona. Eine Krankheit verursacht durch die Übertragung tierischer Erreger auf den Menschen, eine sogenannte Zoonose, hat den Alltag weltweit zum Anhalten gezwungen und beeinflusst uns noch heute. Wir hätten zum Beispiel lernen können, dass die Rodung von Wäldern zur massive Landnutzung der immer größer werdenden Weltbevölkerung die Trennung zwischen tierischem und menschlichem Lebensraum aufhebt, sodass Wildtiere soweit an uns herankommen, dass ihre Erreger in unseren Organismus gelangen. Schon heute basieren alle neuen Infektionskrankheiten auf tierischen Erregern. Je weiter der Klimawechsel, unser unstillbarer Hunger und die Asphaltierung der Natur voranschreiten, desto aggressivere Zoonosen werden unser Leben gesundheitlich, gesellschaftlich und finanziell bestimmen.
 
Corona wäre zudem eine Übungsfläche gewesen, als Weltgemeinschaft ein Problem zu lösen, das alle Länder betrifft. Wir können die Herausforderungen des Klimawechsels nur meistern, wenn wir alle am gleichen Strang ziehen. Länder aus Süd und Nord, arm und reich, schwarz und weiß.

Wahre Preise – die jetzige Rohstoff-"Krise"
Nun unser aktuelles Problem: steigende Preise, Lieferstopps von Rohstoffen und hohe Energiekosten. Zum ersten Mal spüren wir, dass der Konsum von Gütern, die wir bisher auf Grund ihres geringen Preises massenhaft und ohne Überlegung nutzten, auf einmal einem eigenen Nutzungsstopp unterliegen, da wir einen höheren Preis nicht zahlen können und wollen. Wir überlegen jetzt zweimal, ob wir weiterhin mit dem Auto zum Kiosk um die Ecke fahren, um eine Tüte Chips zu kaufen. Aber ist der Preis an den Zapfsäulen tatsächlich zu hoch? Was ist denn ein angemessener Preis für eine Ressource, deren Gesamtmenge bei jedem Tankvorgang geringer wird? Eine Welt, in der es kostengünstig ist, eine endliche Ressource aufzubrauchen bis sie leer ist, wird kollabieren.

Christina Christiansen. © privatWir sind schnell darin, die Verantwortung Unternehmen oder Politik zuzuordnen und Fairness zu fordern. Fair ist das allerdings nicht. So wie ich den Müll rausbringen muss, wenn ich Abfall erzeuge, habe ich auch in anderen Bereichen die Kosten für meine Nutzung zu tragen. Möglichkeiten wie eine individuelle Kfz-Steuer nach dem eigenen Verbrauch, eine pauschale Umlage auf Fahrzeugkaufpreise oder Benzinpreise gibt es viele. Diese aktuelle Krise beinhaltet die Chance, unseren Verbrauch und Konsum von Gütern zu überdenken. Muss ich jeden Tag duschen und muss jedes Kleidungsstück nach einmaliger Nutzung gewaschen werden? Welche Strecken muss ich mit dem Auto fahren? Was soll ein Preis eigentlich ausdrücken? Die aktuelle Krise beinhaltet die Chance zur Fokussierung auf das, was ich wirklich brauche und was mich tatsächlich erfüllt.

All diese Krisen sind also alles in allem Geschenke, jetzt flächendeckend Änderungen anzugehen: Energiewende, Wirtschaftswende, Verkehrswende, Ernährungswende.
 
Christina Christiansen ist nachhaltige Unternehmensberaterin. Ihr Lebensziel ist es, den Klimawechsel durch Verbindung aus Umweltwissenschaft und Persönlichkeitsentwicklung zu verlangsamen.

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Gesellschaft | Politik, 29.10.2022

     
        
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