BIOFACH 2025

Krisen und SDGs systemisch verstehen und (auf)lösen

Die Erkenntnisse der Wissenschaften nutzen

Können wir die bestehenden Krisen in die wohl größte Chance für Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt verwandeln?
Die Antwort lautet eindeutig: „Ja!" Vorausgesetzt, wir nutzen die Erkenntnisse der Wissenschaften und setzen auf eine umfassende systemische Lösungsstrategie.


Sie weisen in die richtige Richtung: Die 17 Entwicklungsziele der Vereinten Nationen. Doch sie müssen 'work in progress' bleiben, sich weiterentwickeln und der aktuellen Situation anpassen. Ein Ansatz wäre es, die Ziele noch positiver zu formulieren und um ein achtzehntes Ziel zu ergänzen: Bewusstseinsarbeit zur Erreichung der Ziele. Auch das ist mit den Inner Development Goals (IDG) bereits am entstehen.Die bestehenden Krisen (u.a. Klima, Biodiversität, Ressourcen, Krieg) sind hoch komplex. Sollen die 17 Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen als Lösungsansatz tatsächlich bis 2030 erreicht werden, dann ist dafür eine andere Herangehensweise vonnöten: Die systemisch orientierte Managementlehre weist klar darauf hin, dass komplexe Probleme nicht einfach auseinanderdividiert und aufgespalten werden dürfen. Vielmehr müssen sie mitsamt den sichtbaren und nicht sichtbaren Wechselwirkungen verstanden und ganzheitlich angegangen werden. Dafür werden geeignete methodische Hilfsmittel benötigt, wie zum Beispiel ein Modell auf Basis des vernetzten Denkens. Ein solches Modell fördert den Überblick über die Ziele und lässt mögliche Zielkonflikte erkennen. Außerdem kann damit das Gesamtsystem lösungsorientiert neu ausgerichtet werden, sodass Synergieeffekte bei der Zielerreichung entstehen. Vorab müssen für das Modell jedoch grundlegende Leitplanken abgesteckt werden, damit am Ende Lösungsansätze stehen, die für alle Beteiligten förderlich und akzeptabel sind. Welche Leitplanken können dies vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Krisen gewährleisten?

1. „Cradle to Cradle" als Grundlage für ganzheitliche Kreislaufwirtschaft
Effektive Nachhaltigkeit benötigt für alle Akteure und insbesondere für Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik einen handlungsleitenden Rahmen. Ähnlich einer Checkliste, sorgt der Cradle to Cradle-Standard dafür, dass Kreislaufwirtschaft ganzheitlich angegangen und kontinuierlich optimiert wird. So liegt der Fokus nicht nur allein auf geschlossenen biologischen oder technischen Kreisläufen, sondern zudem auf dem Einsatz erneuerbarer Energien, Wasserqualität und -quantität, sozialen Standards sowie einer Chemikalienanalyse für eine geförderte Gesundheit von Mensch und Natur. Darüber hinaus befasst sich der Cradle to Cradle-Ansatz auch mit systemischen Änderungen, zum Beispiel indem Produkte zu Dienstleistungen werden (mehr dazu in forum 2-2022: Everything as a Service – XaaS). Viele der bestehenden Nachhaltigkeitsprobleme können mit diesem Ansatz gelöst oder zumindest stark reduziert werden. Zudem ist der Ansatz kompatibel mit politischen Auflagen wie dem Green Deal. Während in forum Nachhaltig Wirtschaften wiederkehrend auf Cradle to Cradle hingewiesen wird, ist das Konzept außerhalb dieser aufgeklärten Leserschaft leider noch längst nicht allen Menschen bekannt. Daher sei auf das gleichnamige Buch von Braungart und McDonough sowie zahlreiche Dokumentarfilme auf Youtube verwiesen.

2. Innere Entwicklung des Menschen
Ein flankierender Ansatz ist es, innere Entwicklungsziele (IDGs) für den einzelnen Menschen und Wirtschaftsakteure zu definieren, um ein Erreichen der SDGs zu unterstützen. Die fünf vorgeschlagenen menschlichen Entwicklungsbereiche beziehen sich erstens auf das Sein beziehungsweise die Seinsqualitäten und die Beziehung zu sich selbst, zweitens auf das Denken und kognitive, systemische (Komplexitätsmanagement-)Fähigkeiten, drittens auf die Beziehungsfähigkeit zu anderen Menschen und zur Umwelt/Welt, viertens auf die sozialen Fähigkeiten für effektive Zusammenarbeit und gesellschaftliche Verantwortung sowie fünftens auf Tugenden des Handelns wie Mut, Kreativität, Optimismus und Durchhaltevermögen.

Ohne Zweifel sind die IDGs für einen Wandel zentral. Aber wird damit der stärkste Hebel für Veränderungen bereits im Kern thematisiert? Gemäß der Systemwissenschaftlerin Donella Meadows entsteht die größte Hebelwirkung, wenn das bestehende Weltbild infrage gestellt und bei Bedarf verändert wird. Das ist bei den SDGs bisher nicht oder nicht in ausreichendem Maße geschehen. Das vorherrschende mechanistische Weltbild und das Paradigma des Realismus gehen von einer „fixen" Realität „im Außen" aus, die unabhängig ist von menschlicher Beobachtung und menschlichen Emotionen. Dies entspricht nicht dem neuesten Stand der Wissenschaft und es ergeben sich daraus heikle Fehler in der Strategieentwicklung. Aus dem Grund geht die dritte Leitplanke auf einen benötigten Paradigmenwechsel und ein Update des Weltbildes ein.

3. Konstruktivistische Wirkmechanismen berücksichtigen
Erkenntnisse aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen, so unter anderem der Psychologie, Quantenphysik und Quantenbiologie, bestätigen, dass bewusste sowie unbewusste Überzeugungen, Gedanken, Emotionen und die Ausrichtung der Aufmerksamkeit von Menschen in konstruk­tivistischer Weise mit der erlebten subjektiven Wirklichkeit in Wechselwirkung stehen. So ist etwa das Phänomen der „selbsterfüllenden Prophezeiung" experimentell nachgewiesen. Und Hans-Peter Dürr, Träger des Alternativen Nobelpreises, bringt eine zentrale Erkenntnis der Quantenphysik kurz und knapp wie folgt auf den Punkt: „Materie ist geronnener Geist." Wenn demnach menschliche Gedanken und Emotionen eine Auswirkung auf subjektiv erfahrene Wirklichkeiten haben, was sagen dann die „im Außen" gespiegelten Krisen über die gegenwärtig dominierenden inneren Seinszustände und Überzeugungen der Menschen aus? Die Antwort ist eindeutig: Es bedarf der inneren Arbeit, um wünschenswerte Wirklichkeiten hervorzubringen. Da aus quantenphysikalischer Sicht der Fokus der Aufmerksamkeit mehr von dem hervorbringt, worauf er gelenkt wird, sind vor diesem Hintergrund die SDGs Nummern 1, 2 und 10 kontraproduktiv formuliert: Die Ziele „kein Hunger", „keine Armut" und „weniger Ungleichheit" bringen aus konstruktivistischer Sicht durch Fokussierung mehr Hunger, Armut und Ungleichheit hervor.

Einen ähnlichen, negativen Effekt erzeugen die Massenmedien, indem sie den Fokus der Beobachter auf Bilder von Krieg und Krisen lenken und damit Ängste schüren. Würde der Fokus stattdessen auf hoffnungsvoll stimmende Bilder und Lösungen gelenkt, hätte dies aus konstruktivistischer Sicht eine durchaus lösungsförderliche Wirkung.

Abbildung: Vernetzte SDGs unter Berücksichtigung des Cradle to Cradle-Prinzips, der inneren Entwicklung des Menschen und positiv definierter Ziele, Grafik: © 2022 Dr. Violetta Neumann-Wolff
Neubenennung und Vernetzung der SDGs
Was wäre, wenn auf Basis dieser drei Leitplanken einzelne SDGs neu formuliert und lösungsorientiert ausgerichtet werden? Wenn zudem im Bildungssystem über die Zusammenhänge des Konstruktivismus aufgeklärt und nicht zuletzt Methoden zum Meistern komplexer Probleme und zur Neuausrichtung des mentalen und emotionalen Gemütszustands gelehrt werden? Nur dann könnten wir bei SDG 4 zu Recht von „hochwertiger Bildung" sprechen. In dem abgebildeten Modell der vernetzten UN-Nachhaltigkeitsziele werden diese drei Leitplanken lösungsorientiert berücksichtigt.

Da „hochwertige Bildung" für eine grundlegende und nachhaltig wirksame Neuausrichtung des Gesamtsystems sorgen kann, wird das Modell an dieser Stelle beginnend mit seinen Wirkungszusammenhängen in Auszügen erklärt: Wird an Schulen, Universitäten und im Rahmen von Weiterbildungsprogrammen für Führungskräfte in Wirtschaft und Politik komplexes Systemdenken geschult und die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums fokussiert, kann dies einen positiven Dominoeffekt haben: Systemisch und kritisch denkende Menschen fragen dann aufgrund ihres Problem- und Lösungsverständnisses vermehrt Cradle to Cradle-Produktenach und regen auf diese Weise die Wirtschaft an, ihre Produkte und Dienstleistungen dahingehend umzustellen (SDG 12). Mit den neu erworbenen Fähigkeiten zum kritischen Denken und Lösen komplexer Probleme legen insbesondere junge Menschen zudem die Grundlage für ein gesichertes Einkommen (SDG 1) und für eine menschenwürdige Arbeit (SDG 8). Da die neue „hochwertige Bildung" auch die Grundlagen zur inneren Arbeit und Veränderung des emotionalen und mentalen Zustands vermittelt, wird damit ein Beitrag zur ganzheitlichen Gesundheit und zum Wohlergehen der Gesellschaft geleistet (SDG 3). Innere Arbeit stärkt nicht nur die mentale und emotionale Gesundheit und den „inneren Frieden", sondern infolgedessen auch den Frieden „im Außen" (SDG 16). Unternehmen und Institutionen profitieren ebenfalls davon, wenn Führungskräfte und Mitarbeitende nicht nur in und an der Organisation, sondern auch an sich selbst arbeiten und damit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg erzielen (SDG 16). Ein weiterer zentraler Bereich liegt in dem abgebildeten Modell rund um das Ziel Nummer 9: Wenn Industrien, Infrastrukturen, Innovationen sowie Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten gezielt auf ganzheitliche Kreislauf- und Cradle to Cradle-Prinzipien ausgerichtet werden und dafür branchenübergreifende Partnerschaften eingegangen werden (SDG 17), ergeben sich daraus positive Folgeeffekte für das Gesamtsystem, wie beispielsweise nachhaltige Entwicklungen von Städten und Gemeinden (SDG 11), sauberes Wasser und Sanitäranlagen (SDG 6), Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zum Klimaschutz (SDG 13) und damit einhergehend bezahlbare und saubere Energie (SDG 7). Kooperation und das partnerschaftliche Zusammenspiel bei der Lösung der globalen Herausforderungen ist somit der Schlüssel für unsere globale Zukunft.

Dr. Violetta Neumann-Wolff ist Beraterin und Mentorin mit Fokus Komplexitätsmanagement und hat zur systemorientierten Tiefenanalyse komplexer Organisationsprobleme promoviert. Im Rahmen ihrer Forschungsprojekte hat sie bei CEOs und Führungskräften zentrale Lücken zu systemischem Wissen und bei Skills zur effektiven Herangehensweise an komplexe Probleme aufgedeckt: Teure Symptombehandlungen und ungelöste, sich verschärfende Probleme sind nach ihrer Ansicht die Folge. Ihr Buch/eBook ist im September 2022 im Verlag Springer Gabler erschienen und liefert der Managementpraxis Handlungsempfehlungen für den erfolgreichen Umgang mit komplexen Problemen.
 
Der SDG-Booster
Handlungsempfehlungen für die Zielerreichung


Werden die UN-Teilziele zueinander in Beziehung gesetzt und zielführend organisiert, entstehen Win-Win- und Synergieeffekte. Alle benötigten Ressourcen zur Realisierung eines Modellansatzes sind bereits vorhanden: systemische Methoden, innovative Technologien, (inter-)disziplinäres Know-how und eine hinreichend große Anzahl kritisch denkender Menschen mit ähnlichen Werten und Idealen. Diese Ressourcen können wie folgt aufeinander abgestimmt und vor allem in der Wirtschaft angewendet werden:
  1. Geeignete Methoden für Komplexitätsmanagement und zur Strategieentwicklung anwenden: Die modell- und modulbasierte Methode „Vernetztes Denken im Management", mit Ursprung an der Universität St. Gallen, ermöglicht die Entwicklung konkreter Lösungsstrategien unter Einbezug betroffener Stakeholder. So fühlen sich alle Beteiligten hinreichend mit ihren Bedürfnissen gesehen und verstanden. Aus dem Modell lassen sich klare Ziele, zielführende Hebel und Maßnahmen sowie eindeutige Verantwortlichkeiten zur Implementierung der Strategien ableiten. Diese Methode sollte beispielsweise um die Methode „Systemaufstellung" ergänzt werden, um auch unbewusste, erfolgsrelevante Einflüsse und Wechselwirkungen zu berücksichtigen.

  2. Das systemische „Update" im Bildungssystem forcieren: Um die innere Entwicklungsarbeit und den Wandel zum systemisch-konstruktivistischen Denken im Bildungssystem voranzutreiben, werden Schulleiter*innen, Universitäts- und Hochschulprofessoren und -professorinnen beziehungsweise Dozierende und Verantwortliche für Curricula der Länder eingeladen, sich mit den genannten wissenschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Ziel ist es, die Integration dieses Wissens und eine Skalierung bewährter Strategien und Methoden im Bildungssystem voranzutreiben.

  3. Führungskräfte-Mentoring als Katalysator des erfolgreichen Wandels nutzen: Vor allem Führungskräfte können durch gezielte Veränderung ihres mentalen und emotionalen Zustands den Erfolg eines Unternehmens oder den eines Projektes maßgeblich beeinflussen. In Wirtschaft und Politik ist dies bisher nicht hinreichend bekannt und/oder es fehlt an geeigneten Methoden. Um gesteckte (Nachhaltigkeits-)Ziele durch innere Arbeit schneller und leichter zu erreichen, erhalten interessierte Führungskräfte ein individuelles Mentoring.

Gesellschaft | Politik, 29.11.2022
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2022 mit dem Schwerpunkt: Globale Ziele und Klimaschutz - Zeit, die Stimme zu erheben und endlich zu handeln? erschienen.
     
        
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