Werden wir künftig (noch) länger arbeiten müssen?
Christoph Quarch fragt sich, warum so viele Menschen Arbeit nur noch als etwas erleben, das sie möglichst schnell hinter sich lassen müssen.
Immer mehr Menschen in Deutschland gehen in Frührente. Gleichzeitig leidet die deutsche Wirtschaft unter einem Mangel an Arbeitskräften – ein Trend, der sich verschärfen wird, wenn in wenigen Jahren die geburtenstarken Jahrgänge das Rentenalter erreichen. Ökonomen und Arbeitgeberverbände fordern deshalb eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre. Die Bundesregierung will jedoch daran festhalten, die Altersgrenze bis 2029 schrittweise auf nur 67 Jahre anzuheben. Politiker aus SPD und FDF denken zudem laut darüber nach, nach skandinavischem Vorbild eine flexible Renteneintrittsregelung einzuführen. Nun aber hat Bundeskanzler Olaf Scholz zu erkennen geben, dass ihm der Trend zur Frührente zu weit geht. Es müssten mehr Anreize geschaffen werden, damit Menschen bis zum Renteneintrittsalter arbeiten. Werden wir künftig länger arbeiten müssen? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, gibt es in Deutschland zu viele Frührentner?
Ich fürchte Ja. Nicht, dass ich es den Leuten nicht gönnen würde, dass sie schon mit Anfang 60 aus dem Berufsleben ausscheiden, aber aus der gesamtgesellschaftlichen Perspektive sehe ich das mit großer Sorge. Wir haben jetzt schon zu wenig Arbeitskräfte. Allein durch Zuwanderung und den Ausbau von Kitas wird man dem Problem nicht beikommen. Nüchtern betrachtet wird es gar nicht anders gehen, als dass all diejenigen, die arbeiten können, aktiv bleiben und dazu beitragen, unseren Wohlstand zu erhalten. Von daher stimme ich dem Bundeskanzler zu: Wir müssen Anreize schaffen, um die Menschen länger in Arbeit zu halten
Ver.di-Chef Franz Werneke sieht das anders. Er warnt davor, die Frührente anzutasten. Für viele Menschen sei ein früher Renteneintritt die einzige Chance, einer zu hohen Arbeitsbelastung zu entkommen.
Ich sehe das anders. Klar ist: Wer in Frührente geht, muss finanzielle Einbußen in Kauf nehmen. Das können sich aber in der Regel nur diejenigen leisten, die während ihrer Berufstätigkeit genug Geld zurücklegen konnten oder über ein ordentliches Vermögen verfügen. Das sind aber nicht die Malocher, an die Herr Werneke denkt. Wenn ich mich umschaue, dann sehe ich jede Menge Angestellte, die sich in die Frührente verabschieden. Die Zahl der Frührentner konnte nur explodieren, weil es so viele wohlhabende Leute in diesem Land gibt, für die ein paar Prozentpunkte Rentenabzug keine Rolle spielen.
Aber warum sollten diejenigen, die es sich leisten können, nicht früher in Rente gehen dürfen? Die FDP vertritt den Standpunkt, dass man den Menschen nicht vorschreiben könne, wann sie aus dem Erwerbsleben ausscheiden wollen.
Naja, das ist die typische FDP-Denke, die immer den Einzelnen und seine Interessen im Blick hat, dabei aber gerne die soziale Gerechtigkeit aus dem Blick verliert. Eines müssen wir doch sehen: Die Arbeit, die von der Ü 60 nicht mehr erledigt wird, verschwindet nicht einfach. Die muss dann von anderen erledigt werden; vor allem von den Jüngeren – die gleichzeitig erleben, dass die Älteren die Cafés und Innenstädte überschwemmen und eine Reise nach der anderen unternehmen. Da bleibt es nicht aus, dass sich die Jüngeren übervorteilt fühlen und Berufseinsteigern die Work-Life-Balance wichtiger ist als das Einkommen. Irgendwann wird es schwer, überhaupt noch Leute zu finden, die gerne arbeiten wollen.
Wollen Sie damit etwa sagen, dass es in Deutschland zu wenige arbeitswillige Menschen gibt?
Ich glaube tatsächlich, dass es um die Arbeitsmoral nicht sonderlich gut bestellt ist. Ich mache das niemandem persönlich zum Vorwurf, aber was da auf dem Arbeitsmarkt los ist, gibt mir wirklich zu denken. Genauso wie der Trend zur Frührente. Ich frage mich, warum so viele Menschen Arbeit nur noch als etwas erleben, das sie möglichst schnell hinter sich lassen müssen. Ist die Arbeit zu anstrengend? Für einige mag das zutreffen, aber nicht für die meisten. Bei denen liegt es eher daran, dass die Arbeit ihnen zu wenig Sinn und Erfüllung bietet – oder dass es so viele Freizeitangebote und Reiseziele gibt, dass sie schlicht die Lust am Arbeiten verlieren. Darüber müsste eine gesellschaftliche Debatte geführt werden: Was muss geschehen, damit die Arbeit wieder Spaß macht? Am Ende ist es eine geistige Krise, die sich hier ankündigt.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 18.12.2022
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