Länder bleiben dem Nationalen Bildungsgipfel in Berlin fern
Für Christoph Quarch sind Urteilskraft und Handlungsvermögen die Kernkompetenzen, die bei einer Neujustierung vermittelt werden müssen
Das Bildungssystem steckt in einer Krise. Lehrermangel, sinkendes Leistungsniveau bei Kindern, marode Gebäude, verschleppte Digitalisierung, schlechtes Abschneiden im internationalen Verleich: Diesen Mängeln beizukommen, ist das erklärte Ziel der Ampelkoalition. Also bat Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger diese Woche zum nationalen Bildungsgipfel: Bund, Länder, Kommunen, Verbände, Experten und Gewerkschaften – alle sollten sich an einen Tisch setzen um einen Aufbruch zu schaffen und Ziele festzulegen. Die Begeisterung der geladenen Gäste hielt sich jedoch in Grenzen. Nur zwei von 16 Landeskultusminister folgten dem Ruf nach Berlin. Die anderen blieben mit dem Hinweis fern, nicht einer Showveranstaltung beiwohnen zu wollen. Kommt die Bildung unter die Räder der Parteipolitik? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, können wir es uns leisten, nötigen Reformen des Bildungswesen vor uns herzuschieben?
Auf keinen Fall. Die Krise des Bildungswesens steht nicht bevor, sie ist schon da. Und wir sind gut beraten, alle verfügbaren Kräfte zu bündeln, um möglichst schnell aus dieser Krise herauszufinden. Für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland war Bildung immer die wichtigste Ressource. Dass seit Angela Merkels Bildungsgipfel im Jahr 2008 nichts besser, sondern alles nur noch schlimmer wurde, ist in meinen Augen das größte der zahlreichen Politikversäumnisse ihrer Amtszeit. Und dass jetzt die Länderminister den Gipfel boykottieren und den Start zu dringenden Reformen weiter verschleppen, ist in meinen Augen eine Akt der Verantwortungslosigkeit gegenüber unseren Kindern und der Zukunft des Landes.
Die vom Bildungsgipfel ferngebliebenen Ländervertreter werfen der Bundesministerin vor, den Gipfel nicht ordentlich vorbereitet und ein Programm aufgesetzt zu haben, dass den Titel „Gipfel" nicht verdiene. Kommt aus Berlin zu wenig?
Naja, die Länderminister klagen ja eher darüber, dass Berlin sich zu sehr in ihre Angelegenheiten einmische. Deshalb finde ich diese Begründung hanebüchen. Eigentlich sollten die Ländervertreter happy sein, wenn man ihnen nicht eine fertige Agenda vor die Nase setzt, sondern den Prozess offenhält, den man gemeinsam beginnen möchte. Und einen offenen Prozess braucht es tatsächlich, wenn man das Bildungswesen retten möchte. Denn das wird nur gelingen, wenn man einen radikalen Neubeginn wagt. Dafür aber muss man sich der Frage annehmen, welche Zielsetzung die Bildungspolitik eigentlich verfolgen soll. Solange das nicht geklärt ist, wird bestenfalls ein weiteres Reförmchen herauskommen.
Aber von einer solchen grundsätzlichen Neujustierung ist bisher nicht die Rede. Vielmehr geht es darum, Soforthilfe gegen den Lehrkräftemangel auf den Weg zu bringen, die Digitalisierung zu beschleunigen und vor allem Gelder und Zuständigkeiten neu zu verteilen.
Ja, aber das alles ist vergebliche Liebesmüh, solange man nicht klärt, was denn eigentlich die Bildungsziele sein sollen. Und auf diese Frage wird man keine Antwort finden, wenn man nicht – wie die Bundesministerin anmahnt – zu einer neuen Kultur der Zusammenarbeit findet und möglichst ideologiefrei zwischen allen relevanten Kräften diskutiert, wie wir unsere Kinder am besten auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten und den Lehrerberuf sinnvoll machen können. Ein solcher Diskurs ist aber bislang kaum zu erkennen. Wenn Frau Stark-Watzinger darauf drängt, die Kinder für die Digitalisierung fit zu machen und ihnen die Kunst des Programmierens vermitteln möchte, ist das in meinen Augen zu kurz gegriffen.
Was wären Ihrer Ansicht nach zeitgemäße Bildungsziele im 21. Jahrhundert?
Um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein, müssen wir den jungen – und im Übrigen auch alten – Menschen andere Kompetenzen vermitteln als diejenigen, die heute unterrichtet werden. In erster Linie Urteilskraft und Handlungsvermögen. IT-Kenntnisse nutzen wenig, solange die jungen Menschen nicht gelernt haben, wie sie mit der digitalen Datenflut und den Wundern der Technologie verantwortungsvoll umgehen können. Eine Demokratie braucht primär keine Experten, sondern denkende Bürger. Das muss auf dem Lehrplan für alle ganz oben stehen. Das würde auch den Lehrerberuf aufwerten und interessanter machen. Bildung ist mehr als Ausbildung. Wie wir diese Einsicht operationalisieren können: Das wäre eine würdige Frage für den nächsten – hoffentlich besser besuchten – Bildungsgipfel.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
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Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Bildung, 19.03.2023
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