Time-out für gewählte Mandatsträger?
Christoph Quarch empfiehlt Boris Palmer die Beschäftigung mit der politischen Philosophie der alten Griechen.
Große Aufregung um Boris Palmer: Am Rande einer Konferenz zu Migrationsfragen provozierte der Tübinger Oberbürgermeister einmal mehr mit unbedachten Aussagen und fragwürdigen Vergleichen. Als Reaktion auf den Sturm der Entrüstung, der postwendend über ihn hereinbrach, gab er zur Erleichterung vieler Grüner Parteifreunde nicht nur seinen Partei-Austritt bekannt, sondern kündigte auch an, sich eine „Auszeit" zu nehmen. Seither bleiben Presseanfragen in seinem Büro unbeantwortet. Aber kann oder darf man sich als Politiker so einfach vorübergehend zurückziehen? Darüber sprechen wir dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, was halten Sie von Palmers Idee, eine Auszeit anzumelden?
Für mich verbindet sich der Begriff der Auszeit vornehmlich mit der Welt des Sports. Beim Eishockey etwa haben die Trainer die Möglichkeit, ein Time-Out einzufordern, d.h. das Spiel zu unterbrechen, um in einer Krisensituation die eigene Mannschaft neu zu sortieren. So etwas kann man problemlos auch auf andere Lebensbereiche übertragen: auf Partnerschaften oder Arbeitsverhältnisse zum Beispiel; und warum nicht auch auf politische Karrieren. Die Idee ist durchaus sinnvoll: Ich klinke mich für eine bestimmte Zeit aus, um zu mir zu kommen, mich zu reflektieren und meine blinden Flecken auszuloten.
Im privaten Bereich mag das angehen, aber funktioniert das auch im Bereich der Politik? Immerhin ist Herr Palmer als Oberbürgermeister ein gewählter Mandatsträger. Da kann man sich doch nicht einfach so davonstehlen.
Das hat er ja auch nicht vor. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er sich für einen Monat zurückziehen und die Amtsgeschäfte derweil dem Ersten Bürgermeister und der Zweiten Bürgermeisterin übergeben. Sich selbst hat er krank gemeldet. Das mag fürs erste angehen, ist aber nach meinem Dafürhalten keine saubere Lösung. Vielleicht sollte man angesichts dessen einmal darüber nachdenken, einen politisch und arbeitsrechtlich gangbaren Weg zu schaffen, der es Politikern erlaubt, in einer persönlichen Krisensituation sein Amt für einige Monate ruhen zu lassen, um sich neu zu justieren. Zumal dann, wenn man gerade erst, wie Herr Palmer, zu einer dritten Amtszeit gewählt wurde und offenbar das Vertrauen der Wähler genießt.
Naja, aber das ist hier ja mehr als eine persönliche Krisensituation. Bei Herrn Palmer handelt es sich um einen Mandatsträger, von dem man erwarten darf, dass er sein Amt gewissenhaft ausübt – und der im Amt nicht länger haltbar ist, wenn er sich regelmäßig verbale Entgleisungen erlaubt.
Mag sein – aber wir sollten dennoch den Fall Palmer zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken, ob unsere landläufige Erwartungs- bzw. Anspruchshaltung gegenüber Politikern gerechtfertigt ist – zumal gegenüber Lokalpolitikern, von denen es ohnehin viel zu wenig in unserem Land gibt. Wir wünschen uns einerseits in der Politik Typen mit Ecken und Kanten – und wollen sie dann gleich wieder loswerden, wenn sie uns zu anstößig sind. Die moralische Empörung kommt mir oft zu schnell – und deshalb finde ich es sinnvoll, die Betroffenen nicht gleich zum Rücktritt zu zwingen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, sich vorübergehend zurückzuziehen, um zur Besinnung zu kommen und idealerweise geläutert zurückzukehren.
Was würden Sie denn Herrn Palmer empfehlen, wie er seine Auszeit sinnvoll nutzen könnte, um – wie Sie sagen – zur Besinnung zu kommen? Er selbst sagt, er wolle sich professionelle Hilfe nehmen?
Das versteht sich doch wohl von selbst: Ich würde ihm raten, sich ein bisschen mit Philosophie zu befassen – idealerweise mit der politischen Philosophie der alten Griechen. Dort würde er erfahren, dass die wichtigste Qualität eines Politikers die Tugend der Phronesis ist – der praktischen Intelligenz bzw. Urteilskraft, die in konkreten Situationen versteht, was hier und jetzt das Tunliche ist. Diese Kompetenz konnte man nach Ansicht der griechischen Pioniere der Demokratie trainieren und einüben, indem man seine Leidenschaften und Affekte ausblendet, um nüchtern, wach uns situationsgerecht zu reagieren. Dafür ist es aber notwendig, eine gewisse Distanz zu sich selbst aufzubauen – und eben das ist es, wozu er seine Auszeit nutzen könnte.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 02.05.2023
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