Grenzen effektiver schützen und gleichzeitig legale Einwanderungswege öffnen
Christoph Quarch plädiert in der Migrationsfrage für eine offene Gesellschaft
Täglich mehr als tausend Neuankömmlinge auf Lampedusa, täglich hunderte von Asylbewerbern an den Grenzen zu Polen und Tschechien, Stagnation bei der Bemühung um eine Reform des EU-Asylrechts: Das Thema Migration ist in aller Munde und beherrscht den Wahlkampf in Bayern und Hessen. Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass vor allem eine Partei von der Debatte profitiert: die AfD. Ihre Stimmungsmache gegen Migranten findet immer mehr Resonanz in der Bevölkerung. Gleichzeitig meldet sich der Papst zu Wort und geißelt Europa dafür, den Erhalt des eigenen Wohlstands höher zu gewichten als die Menschenwürde der Asylsuchenden. Wie soll man sich da zurechtfinden? Kann man dem überhaupt moralisch beikommen? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, was wäre aus Ihrer Sicht ein moralisch vertretbarer Weg in der Asylpolitik?
Bevor man die Ethik bemüht, braucht es eine nüchterne Bestandsaufnahme. Fakt ist, dass immer mehr Menschen nach Europa drängen. Egal welche Motive sie haben – sie sind da und sie machen sich die bestehende Rechtslage zunutze, um irgendwie nach Europa hineinzukommen. Fakt ist auch, dass Italien und Griechenland dabei die Hauptlast tragen und von Resteuropa weitgehend im Stich gelassen werden. Fakt ist ebenfalls, dass die Migration nach Europa für kriminelle Schleuser ein lukratives Geschäft ist. Fakt ist aber auch, dass Europa Zuwanderung braucht; und es ist Fakt, dass es ein international verbrieftes Menschenrecht auf Asyl gibt. Vor diesem Hintergrund ist klar: Ein moralisch vertretbarer Weg ist auf jedem Fall ein Weg zwischen Skylla und Charybdis: zwischen der Achtung der Menschenrechte auf der Seite einen und der Gefahr schwerer Verwerfungen innerhalb der aufnehmenden Gesellschaften auf der anderen Seite.
Das klingt so, als stünde in der Debatte eine moralische Pro-Asyl Position gegen eine pragmatische Anti-Asyl Position. Wie lässt sich dieser Konflikt auflösen?
Tatsächlich wird in Politik und Medien der Konflikt gern auf diese Formel gebracht. Das macht es den rivalisierenden Gruppen leicht, sich als „Realisten" oder „Pragmatiker" aufzuspielen und die Gegenseite als „Idealisten" zu diffamieren. So kommt man keinen Deut weiter, sondern verschärft lediglich die Auseinandersetzung und macht die Extremisten stark. In Wahrheit geht es aber gar nicht um „Idealismus" versus „Realismus" oder um „Moral" versus „Pragmatik". In Wahrheit haben wir es mit einem rein moralischen Thema zu tun, nämlich mit der Frage: Was ist für unser politisches Handeln normativ? Woran wollen wir Maß nehmen? Eine rein pragmatische Lösung gibt es nicht. Eine Lösung gibt es nur, wenn es gelingt, einen moralischen Konsens zu finden.
Davon sind wir aber offenbar weit entfernt. Und die Flüchtlinge stehen vor der Tür. Wir müssen jetzt handeln. Wie soll das ohne ein pragmatisches Vorgehen geschehen?
Ja, wir dürfen keine Zeit verlieren. Deshalb ist es so wichtig, auf die nüchterne Bestandsaufnahme eine nüchterne ethische Einschätzung folgen zu lassen. Aber dafür brauchen wir die richtigen Parameter. Und genau die vermisse ich. Der päpstliche Hinweis auf die Menschenwürde ist gut gemeint, aber er verkennt, dass die Politik vor allem die Aufgabe hat, die Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen überhaupt erst in Würde leben können. Solche Bedingungen sind z.B. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie gilt es zu schützen und zu bewahren. Wenn ein Übermaß an ungeregelter Migration zu einer Erosion von Demokratie und Rechtsstaat führt – z.B. durch einen widererstarkten Faschismus – dann ist es von essentieller Bedeutung, die Migration nach Europa verträglichen und klaren Regeln zu unterwerfen.
Aber bedienen Sie damit nicht die migrationsfeindliche Haltung der politischen Rechten?
Nein. Die Rechte lehnt Migration ab, weil sie die offene Gesellschaft ablehnt und der unrealistischen Fantasie folgt, die Migrationswilligen würden verschwinden, wenn ein starker Staat die Grenzen dicht macht. Ich hingegen möchte eine offene Gesellschaft, die legale Wege und Mittel etabliert, um die für ihren Erhalt notwendige Migration zu ermöglichen. Es geht eben nicht um Pragmatismus hier und Idealismus da. Es geht um die Frage: Wollen wir eine offene Gesellschaft? Und anders als die AfD beantworte ich diese Frage mit einem entschiedenen Ja. Aber ich sehe auch, dass es in einer Demokratie für den Erhalt der freien Gesellschaft notwendig sein kann, Maßnahmen zu ergreifen, die ihren eigenen Werten nicht genügen. Deshalb halte ich den aktuellen EU-Kurs für einen möglichen Weg, zwischen Skylla und Charybdis hindurch zu navigieren: Grenzen effektiver schützen und gleichzeitig legale Einwanderungswege öffnen. Dafür müssen wir den Weg freimachen.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese: Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
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