NGO-Recherche belegt: Kein Kohleausstieg in Sicht

Hunderte Unternehmen entwickeln neue Kohlekapazitäten | 95 % der Kohleunternehmen haben keinen Kohleausstiegsplan

Vier Wochen nach dem UN-Klimagipfel in New York haben urgewald und über 40 NGO-Partner die "Global Coal Exit List" (GCEL) für 2023 veröffentlicht. Die GCEL bietet detaillierte Informationen über mehr als 1.400 Unternehmen, die entlang der Kohlewertschöpfungskette tätig sind, und ist die weltweit umfassendste öffentliche Datenbank über die Kohlebranche.
 
© urgewald e.V."Unsere Daten liefern ein düsteres Gesamtbild", sagt Heffa Schücking, Geschäftsführerin von urgewald. "Von den 1.433 Unternehmen auf der GCEL haben nur 71 Unternehmen Kohleausstiegsdaten gesetzt. Währenddessen entwickeln 577 Unternehmen immer noch neue Kohlekapazitäten. Ohne entschiedene Eingriffe von Regierungen, der Finanzindustrie und Regulierungsbehörden wird das Kapitel Kohle nicht geschlossen werden."

Das Problem weitet sich aus
Trotz der Schließung von Kohlekraftwerken in einigen Teilen der Welt ist der weltweite Kohlekraftwerkspark seit der Unterzeichnung des Pariser Abkommens um 186 Gigawatt (GW) netto gewachsen. Das ist mehr als die in Betrieb befindlichen Kohlekraftwerke in Deutschland, Japan, Südkorea und Indonesien zusammengerechnet.

Laut der NGO-Recherche planen Unternehmen immer noch die Entwicklung zusätzlicher 516 GW neuer Kohlekraftwerkskapazität. Wenn diese Projekte ans Netz kämen, würde die derzeit weltweit installierte Kohlekraftwerkskapazität um 25 % steigen. Zwei Drittel dieser neuen Kapazitäten sind in China geplant. Das Land hat seine Pläne für neue Kohlekraftwerke seit 2022 hochgefahren, als die Dürre die Wasserkraftproduktion verringerte und rekordverdächtige Hitzewellen die Stromnachfrage in die Höhe trieben. Es überrascht daher nicht, dass acht der zehn weltweit führenden Kohlekraftwerksentwickler staatliche chinesische Energiekonzerne sind.[1] Überraschend ist jedoch, dass 96 US-Investoren, angeführt von BlackRock und Vanguard, 26 % der institutionellen Investitionen in diese chinesischen Kohleunternehmen auf sich vereinen. Mit 1,68 Milliarden US-Dollar ist BlackRock der weltweit größte institutionelle Investor in diese Unternehmen, während Vanguard mit 909 Millionen US-Dollar auf Platz 4 steht.[2]

In den übrigen Ländern der Welt sind die Pläne für neue Kohlekraftwerkskapazitäten deutlich zurückgegangen - von 222 GW auf 187 GW. Von den 39 Ländern, in denen noch neue Kohlekraftwerke gebaut werden sollen, stehen Indien (72 GW), Indonesien (21 GW), Vietnam (14 GW), Russland (12 GW) und Bangladesch (10 GW) vorn.

Ausbau des Kohlebergbaus
Mit über 7,2 Milliarden Tonnen erreichte die weltweite Förderung von Kraftwerkskohle im Jahr 2022 ein Allzeithoch.[3] Der Ausblick macht wenig Hoffnung auf eine Kehrtwende: In 31 Ländern stehen neue Kohleminen in den Startlöchern. Insgesamt planen die auf der GCEL gelisteten Unternehmen neue Projekte zur Förderung von 2,5 Milliarden Tonnen Kraftwerkskohle pro Jahr, was mehr als 35 % der derzeitigen Weltproduktion entspricht.

Im Mittelpunkt des Kohlebergbaubooms steht Indien, wo die Kohleproduktion im vergangenen Jahr mit 893 Millionen Tonnen bereits einen historischen Höchststand erreichte. Bis 2030 sollen es 1,5 Milliarden Tonnen pro Jahr werden.[4] Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Regierung seit 2020 92 neue Kohleabbaukonzessionen versteigert; Hunderte weitere sind in Vorbereitung. "Was hier versteigert wird, ist die traditionelle Heimat von Hunderttausenden indischen Stammesangehörigen sowie Waldgebiete, die unglaublich reich an Biodiversität sind und eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung des Wasserkreislaufs spielen. Es ist absurd, so zu tun, als ob diese immense Zerstörung im nationalen Interesse läge", sagt Joe Athialy, Direktor des Centre for Financial Accountability in Delhi.

Die drei größten Kohleminenentwickler der Welt sind Coal India mit Projekten im Umfang von 591 Millionen Tonnen neuer Kohleproduktion pro Jahr, China Energy Investment mit 169 Millionen Tonnen und die Adani Group mit 94 Millionen Tonnen. Während die ersten beiden Unternehmen in Staatsbesitz sind, gehört die Adani Group dem Milliardär Gautam Adani, dessen Unternehmen immer wieder von seinen engen Beziehungen zur Modi-Regierung profitiert. Heute ist Adani der größte private Kohleminenentwickler der Welt. Das Konglomerat besitzt Kohleminen in drei Ländern, ist ein bedeutender Kohlehändler und -transporteur, betreibt einen 16-GW-Kohlekraftwerkspark (mit weiteren 10 GW in der Pipeline) und plant den Bau einer riesigen vier Milliarden US-Dollar teuren Kohle-zu-Plastik-Anlage in Indien. Obwohl eine der neun börsennotierten Tochtergesellschaften der Adani-Gruppe - Adani Green Energy - Solarprojekte entwickelt, werden die Investitionen der Gruppe in erneuerbare Energien von ihrem enormen Kohleportfolio in den Schatten gestellt.

Wie grüne Investitionen die Kohleexpansion anheizten
Bis Januar 2023, als der Leerverkäufer Hindenburg Research die Adani-Gruppe der "dreisten Aktienmanipulation und des Bilanzbetrugs" beschuldigte, konnte Adani über grüne Anleihen problemlos Geld beschaffen und Adani-Tochtergesellschaften waren in Hunderten von ESG-Fonds zu finden. Selbst Anleger, die sich aufgrund der Kohleaktivitäten von anderen Teilen der Adani-Gruppe getrennt hatten, investierten gerne in Adani Green Energy. Der Hindenburg-Bericht und nachfolgende Untersuchungen deckten jedoch eine Vielzahl von Finanztransfers innerhalb der Gruppe auf, darunter auch Transaktionen zwischen Adani Green Energy und Adani-Töchtern, die am Kohleausbau beteiligt sind. Inzwischen haben Angaben der State Bank of India gezeigt, dass Aktien von Adani Green Energy und anderen Tochtergesellschaften der Gruppe als Kreditsicherheiten für Adanis riesige Carmichael-Kohlemine in Australien verwendet wurden. "Adani ist ein deutliches Beispiel dafür, warum verantwortungsbewusste Investoren alle Tochtergesellschaften von Kohleentwicklern abstoßen müssen. Es ist illusorisch zu glauben, dass Investitionen in den grünen Zweig eines Unternehmens nicht die anderen Aktivitäten quersubventionieren", sagt Heffa Schücking.

Echte Transformation erfordert ein Verbot neuer Kohle
Um die globale Erwärmung auf 1,5° Celsius zu begrenzen, dürfen keine neuen Kohleprojekte mehr umgesetzt werden. Zudem muss die Welt bestehende Kohleanlagen rasch stilllegen. Das gilt sowohl auf Firmen- wie auf Länderebene. Neue internationale Geberinitiativen für Länder wie Indonesien werden diesem Anspruch leider nicht gerecht.

Heute verfügt Indonesien über eine Kohlekraftwerkskapazität von mehr als 45 GW und ist der weltweit sechstgrößte Emittent von CO2eq aus fossilen Brennstoffen. Die Verschmutzung durch die Kohlekraftwerke des Landes verursachte im Jahr 2022 rund 10.500 vorzeitige Todesfälle sowie Gesundheitskosten in Höhe von 7,4 Milliarden US-Dollar.[5] Gemeinden in der Nähe von Kohlekraftwerken mussten mit ansehen, wie ihre Lebensgrundlage zerstört wurde, weil Flugasche und Abwässer ihr Ackerland und ihre Fischgründe vergifteten.

Im November 2022 feierte die International Partners Group, bestehend aus den G7-Staaten sowie Norwegen und Dänemark, die Aushandlung einer "Just Energy Transition Partnership" (JETP) mit Indonesien. Die JETP legt jedoch keine Obergrenze für die indonesische Kohleproduktion fest, und es ist immer noch unklar, ob das Finanzierungsabkommen in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar die Pläne des Landes für neue Kohlekraftwerke zurückschrauben wird. Mit über 21 GW in Planung und im Bau verfügt Indonesien über die drittgrößte Kohlekraftwerkspipeline der Welt. Mehr als die Hälfte der geplanten Kapazität ist für firmeneigene Kohlekraftwerke bestimmt, die den Strom direkt an industrielle Abnehmer liefern, anstatt ihn ins Netz einzuspeisen. Ein Beispiel dafür ist das 2.200-Megawatt-Kohlekraftwerk, das das indonesische Bergbauunternehmen Adaro Energy für den Betrieb einer Aluminiumhütte in Nordkalimantan bauen will. Wenn es gebaut wird, wäre es eines der größten Kohlekraftwerke in Indonesien.

Indonesische Nichtregierungsorganisationen kritisieren, dass die geplante JETP nicht mit einem 1,5°C- Pfad vereinbar ist. "Dies würde den Stopp neuer Kohlekraftwerke und den schrittweisen Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2040 erfordern. Der JETP mangelt es nicht nur an Ehrgeiz; sie geht auch nicht auf die enormen Schäden ein, die Kohlekraftwerke und Kohleminen auf dem Land lokaler Gemeinschaften angerichtet haben. Solange die Zivilgesellschaft und die Gemeinden keinen Platz am Verhandlungstisch haben, wird die Energiewende nicht gerecht sein", sagt Dwi Sawung Rukmono, Infrastruktur Campaigner bei der indonesischen Umwelt-NGO WALHI.

Kohle ohne Ende
Während Klimawissenschaftler*innen, die Vereinten Nationen und die Internationale Energieagentur immer wieder einen beschleunigten Ausstieg aus der Kohle fordern, betreibt die überwiegende Mehrheit der Kohleunternehmen weiterhin "business as usual". Von den 1.433 Unternehmen, die auf der GCEL gelistet sind, haben nur 71 Unternehmen - also 5 % - ein Datum für den Kohleausstieg festgelegt. Schücking kommentiert: "95 % der Branche leugnen die Klimarealität und wollen an dem Weiterbetrieb ihren Kohleanlagen festhalten."

Aber selbst bei den wenigen Unternehmen, die einen Kohleausstieg angekündigt haben, kommt dieser häufig viel zu spät. Um die 1,5°C-Grenze einzuhalten, muss der Kohleausstieg in den OECD-Ländern bis 2030 und im Rest der Welt bis 2040 erfolgen. Berkshire Hathaway Energy jedoch will seine 14 Kohlekraftwerke in den USA erst 2049 stilllegen - 19 Jahre zu spät. Ein weiteres Beispiel ist die südkoreanische KEPCO. Die Firma will ihren 36 GW-Kohlekraftwerkspark bis 2050 betreiben. KEPCO baut außerdem noch 4 neue Kohlekraftwerke in Südkorea, Vietnam und Indonesien. Die japanischen Handelshäuser Marubeni und Mitsubishi, die FirstEnergy Corporation aus den USA, der große malaysische Energieversorger Tenaga Nasional und der philippinische Energieversorger Meralco planen ebenfalls erst für 2050 einen Ausstieg. Insgesamt haben nur 41 Unternehmen ein Kohleausstiegsdatum festgelegt, das als Paris-konform angesehen werden könnte. Aber selbst Unternehmen, die die "richtigen" Ausstiegsdaten ankündigen, dekarbonisieren nicht unbedingt.

"Faking it without making it"
In den letzten zehn Jahren hat sich das tschechische Unternehmen Energetický a prumyslový holding (EPH) durch den Erwerb alter Kohleanlagen in ganz Europa zu einem der größten Treibhausgasemittenten der EU entwickelt.[6] Um so lange wie möglich Gewinne aus diesen Anlagen zu ziehen, blockieren EPH und seine Lausitzer Kohlestrom- und Bergbautochter LEAG vehement einen Kohleausstieg in Ostdeutschland bis 2030.[7] Umso überraschender kam EPHs Ankündigung im Juli 2023, "bis 2030 vollständig aus der Kohleverstromung auszusteigen".[8]

Dekarbonisiert wird hier jedoch nichts. EPH lagert einfach den Großteil seiner Kohlekraftwerke und seine gesamte Braunkohleproduktion in eine neue Schwestergesellschaft mit dem unpassenden Namen EP Energy Transition aus. Dieses Unternehmen wird die gleiche Aktionärsstruktur wie EPH haben und den Betrieb seiner Kohlekraftwerke bis zum letztmöglichen Zeitpunkt, nämlich 2038, sicherstellen. Gleichzeitig ist völlig unklar, ob EP Energy Transition mit den notwendigen Rückstellungen für die Sanierung der Lausitzer Braunkohlegruben ausgestattet wurde. Das einzige, was EPH aufgibt, ist seine Verantwortung für die betroffenen Gemeinden und die Umwelt.

Transformation oder Wechsel von einem fossilen Brennstoff zum anderen?
Die meisten der 41 Unternehmen auf der GCEL, die ein Paris-kompatibles Ausstiegsdatum gesetzt haben, beabsichtigen nun Kohle durch fossiles Gas zu ersetzen. "Einen fossilen Brennstoff durch den anderen zu ersetzen ist keine Lösung", sagt Schücking. "Neue Gaskraftwerke führen über Jahrzehnte zu zusätzlichen CO2- und Methanemissionen, die wir uns nicht leisten können. Eine echte Transformation erfordert den Wechsel zu erneuerbaren Stromsystemen."

Bisher will nur eine Handvoll Unternehmen auf der GCEL rechtzeitig aus der Kohle aussteigen und Kohlestrom durch erneuerbare Energien ersetzen. Eines dieser Unternehmen ist der spanische Energieversorger EDP España SAU, der seine drei verbleibenden Kohlekraftwerke bis 2025 stilllegen wird und plant, bis 2030 100 % seines Stroms aus erneuerbaren Energien zu erzeugen.[9]

Die Verantwortung der Finanzindustrie
Der jüngste IPCC-Bericht warnt, dass "die in diesem Jahrzehnt getroffenen Entscheidungen und durchgeführten Maßnahmen Auswirkungen auf die Gegenwart und auf Tausende von Jahren haben werden".[10] Finanzinstitute und Regulatoren gehören dabei zu den einflussreichsten Akteuren.

Hinter jedem einzelnen Unternehmen auf der Global Coal Exit List stehen Banken, Investoren und Versicherer. Ohne ihre Unterstützung könnten diese Unternehmen nicht arbeiten. Viele Finanzinstitute rechtfertigen diese Beziehungen mit der Behauptung, dass sie ihren Kunden bei der Transformation helfen wollen. "Unsere Recherchen zeigen jedoch, dass die überwiegende Mehrheit der Unternehmen auf der Global Coal Exit List nicht vorhat, die Kohle hinter sich zu lassen. Der Stopp von Investitionen in Unternehmen, die uns immer schneller in Richtung Klimahölle treiben, muss zur neuen Normalität werden. Sonst verpassen wir die Chance noch rechtzeitig aus der Kohle auszusteigen", so Schücking.
 
Über die Global Coal Exit List
Die GCEL wurde erstmals 2017 veröffentlicht und wird jeden Herbst aktualisiert. Sie umfasst alle Kohleentwickler, die größten Kohlekraftwerksbetreiber (. 5 GW installierte Kapazität) und Minenbetreiber (. 10 Mtpa) sowie alle Unternehmen, die mehr als 10 % ihrer Stromerzeugung oder ihrer Einnahmen aus Kohle erzielen. Investoren, die über 19 Billionen US-Dollar an Vermögenswerten repräsentieren, verwenden derzeit eines oder mehrere der drei Divestment-Kriterien der GCEL, um Kohleunternehmen aus ihren Portfolios auszuschließen.

Die GCEL 2023 kann unter www.coalexit.org heruntergeladen werden. Die Analysetabelle der 71 Unternehmen mit öffentlich angekündigten Kohleausstiegsterminen kann unter coalexit@urgewald.org bestellt werden.  
 
Kontakturgewald e.V., Dr. Ognyan Seizov | ognyan.seizov@urgewald.org | www.urgewald.org

[1] Zu den acht größten Kohlekraftwerksentwicklern Chinas gehören China Energy Investment, China Datang, State Power Investment Corporation, China Huadian, Shaanxi Coal and Chemical Industry, China Huaneng, Jinneng Group und China National Coal Group.
[2] Eine Übersicht über die institutionellen Anleger der einzelnen Unternehmen finden Sie unter: investinginclimatechaos.org
[3] iea.blob.core.windows.net/assets/91982b4e-26dc-41d5-88b1-4c47ea436882/Coal2022.pdf
[4] Presseveröffentlichung Ministerium für Kohle und Bergbau, 5. Mai 2023
[5] energyandcleanair.org/wp/wp-content/uploads/2023/07/CREA_IESR_Health-Benefits-of-Just-Energy-Transition-and-Coal-Phase-out-in-Indonesia_EN_07.2023.pdf
[6] ember-climate.org/insights/research/top-10-emitters-in-the-eu-ets-2021/
[7] www.faz.net/aktuell/wirtschaft/klima-nachhaltigkeit/leag-chef-sieht-keine-veranlassung-fuer-einen-frueheren-kohleausstieg-18695548.html
[8] www.epholding.cz/en/press-releases/eph-on-its-decarbonisation-pathway-securing-the-stability-of-supply-and-focusing-on-hydrogen-ready-projects/
[9] espana.edp.com/sites/default/files/2023-06/2022%20EDPEspa%C3%B1a_SustainabilityReport_0.pdf (S.46)
[10] www.ipcc.ch/report/ar6/syr/resources/spm-headline-statements/

Technik | Energie, 19.10.2023

     
        
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