Immer mehr Aggressivität auf Deutschlands Straßen
Christoph Quarch sieht es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu zeigen, wie ein wohlwollender und freundlicher Umgang aussieht.
Lichthupe, Drängeln, Stinkefinger: Auf Deutschlands Straßen geht es immer aggressiver zu. Das ist das Ergebnis einer Studie, die die „Unfallforschung der Versicherer" vorgestellt hat. Rund die Hälfte der befragten Verkehrsteilnehmer gibt darin zu Protokoll, Ärger und Stress gelegentlich im Straßenverkehr abzureagieren. Trend steigend. Als Ursache vermuten die Unfallforscher einen generellen Trend zu aggressivem Verhalten, der auch vor dem Straßenverkehr nicht Halt macht. Droht unsere Gesellschaft überzukochen? Darüber reden wir mit unserem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, wie erklären Sie sich den Trend zu immer mehr Aggressivität auf Deutschlands Straßen?
Ich fürchte, dass die Kollegen von der Unfallforschung Recht haben. Das heißt: Auch ich beobachte einen Anstieg des Aggressionslevels. Nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch in den Zügen der Deutschen Bahn, wo Mitreisende erstaunlich schnell aus der Haut fahren; oder in Restaurants, Geschäften und Warteschlangen. Man könnte das damit erklären, dass die Menschen infolge der vielen Krisen, mit denen wir zu tun haben, dünnhäutiger und leichter entflammbar sind. Aber ich sehe den Grund eher darin, dass es immer mehr Leute gibt, die Pöbelei und Aggressivität schick finden. So etwas wie Anstand, Wohlwollen, Freundlichkeit oder einfach auch nur Höflichkeit erscheint ihnen dagegen uncool.
Aber ist das nicht ein bisschen zu pauschal? Es mag ja sein, dass es an einem Ende des Spektrums Rowdytum und Aggression gibt, aber wir haben auf der anderen Seite doch eine starke Bewegung, die sich für gewaltfreie oder achtsame Kommunikation und dergleichen stark macht.
Das ist schon richtig, aber diese gut gemeinten Versuche verpuffen ziemlich wirkungslos. Das hat damit zu tun, dass man mit Trainings und Methoden nur sehr bedingt Einfluss auf die Grundhaltung der Menschen nehmen kann. Dass Aggressivität in immer breiteren Kreisen hoffähig geworden ist, hat für mich etwas mit dieser grauen Wolke diffuser Unzufriedenheit zu tun, die über unserm Land hängt. Viele haben das Gefühl zu kurz zu kommen, und ihr Zorn richtet sich gegen alles, was für sie das bestehende System repräsentiert – einschließlich des ethischen Codes oder der Verhaltensregeln, die in einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft gelten. Jede Pöbelei ist ein Angriff auf die etablierte Ordnung.
Das ist doch aber ziemlich hochgegriffen. Könnte das Mehr an Aggressivität nicht doch einfach nur dem alltäglichen Stress geschuldet sein?
Stress gab es immer; aber Stress muss nicht zwangsläufig durch Aggressivität kompensiert werden – und vor allem nicht im Straßenverkehr. Da kommt etwas anderes ins Spiel – und ich denke, es hat damit zu tun, dass die Leute tagein tagaus ein aggressives Verhalten vorgemacht bekommen: in Filmen, in Social Media – ja sogar im Deutschen Bundestag. Gerade erst hat ja Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sich über die vielen Abgeordneten beklagt, die sich im Parlament schlimmer aufführen „als Rowdys auf dem Schulhof". Und sie hat Recht. Es ist unerträglich, was an diesem ehrwürdigen Ort an Verbalattacken verübt wird. Und wir wissen, welche Partei sich darin besonders hervortut: die Partei der notorisch Unzufriedenen.
Bärbel Bas möchte dem Gepöbel im Bundestag mit höheren Ordnungsgeldern begegnen. Wird das funktionieren?
Ich halte die Maßnahme für richtig, aber es wird das Problem nicht lösen. Wie so oft bei gesellschaftlichen Fehlentwicklungen braucht es eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, die im Kindergarten beginnt und in den Chefetagen endet. Und zwischendrin sind irgendwo die Leute wie Sie und ich. Es liegt an uns allen, dafür zu sorgen, dass Höflichkeit und Anstand wieder die Wertschätzung erhalten, die sie verdienen. Gerade in den Medien haben wir eine hohe Verantwortung dafür, praktisch vorzumachen, wie ein wohlwollender und freundlicher Umgang aussieht – und zu zeigen, wie viel besser es sich in einem entsprechenden Klima leben lässt. Und dann wird es vielleicht auch auf den Straßen wieder entspannter und sicherer.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Megatrends, 16.11.2023
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