Was haben die nur aus meinen Bergen gemacht?
Skitourismus bringt zwar Wohlstand, lässt aber die Natur verarmen
Eine kleine Wandertour mit Ötzi, dem Mann aus dem Eis, über die alpinen Landschaften und Ski-Ressorts der Südtiroler Alpen zeigt, wie Skitourismus zwar Wohlstand bringt, die Natur aber verarmen lässt.
Stellen wir uns vor: Vor rund 5.281 Jahren weht ein eisiger Sturm über dem Tisenjoch in Südtirol bei Meran zwischen dem heutigen Südtiroler Schnalztal und dem Ötztal. Der mit weiß-braun gefleckten Ziegen- und Schafsfellen bekleidete Wanderer der Jungsteinzeit hat den Pass fast erklommen, da stolpert er bei schlechter Sicht in eine von Gletschereis und Neuschnee bedeckte Mulde an der westlichen Hangkante. Der heute von Gerichtsmedizinern und Forensikern auf 41 bis 46 Jahre geschätzte Wanderer kann sich nicht mehr befreien. Er stirbt an der Kälte in 3.210 Meter Höhe und wird im Laufe der folgenden Jahrtausende von einem dicken Eispanzer bedeckt. Der mit einem 1,80 Meter langen, hölzernen Bogen und einer damals wertvollen Handaxt in Kupfer bewaffnete Mann aus dem Eis hat seine vorletzte Ruhe gefunden.
Der Klimawandel lässt Ötzi auferstehen
Auf Grund des im Klimawandel schmelzenden Tisenjoch-Gletschers entdeckt 1991 ein wanderndes Ehepaar aus Nürnberg den Mann im Eis und meldet den Fund der Polizei. Späterer Finderlohn nach juristischem Hick-Hack: 175.000 Euro. Koordinaten für die ältestes humane Mumie der Welt: 46° 47 `/ 10° 51`.
Die Uniformierten und herbeigerufene Bestatter im Grenzgebiet zwischen Italien und Österreich rücken erstmal mit einem Pickel und Presslufthammer dem Botschafter aus der Frühzeit der Menschheit zu Leibe, zertrümmern dabei den Beckenknochen und brechen den aus dem Eis herausragenden Arm ab.
Stellen wir uns nun vor, dass Ötzi und seine immer noch aktive DNA die Frostpause der Jahrtausende gut überstanden hat und er sich, wie der Dino im Hollywood Blockbuster Jurassic Park, nach dieser unfreundlichen Behandlung durch die irdischen Ordnungsmächte auf die Flucht macht. Bevor die Landesarchäologen ihm auf den Pelz rücken können, geht er wieder auf Wanderschaft durch die heutigen Berge des modernen Südtirol.
Funpark für Freestyler
Irgendwas ist hier anders geworden, denkt sich Ötzi, als er hinüber zum heutigen Skigebiet Schnalstaler Gletscher zwischen 2.000 und 3.000 Metern Höhe blickt. Rote Blechkisten mit Fenstern an dicken Seilen, geführt über Masten aus Metall, gleiten über den glitzernden Schneeflächen der Hochalpen auf und ab. Darunter bewegen sich Menschen ganz seltsam in einem der, laut Schnalstaler Gletscherbahnen, „schneesichersten Skigebiete Italiens". Eine Kabinenbahn, sieben Sessellifte und vier Schlepplifte sorgen auf 35 Pistenkilometern zwischen September und Anfang Mai für ein „einmaliges Erlebnis". Ötzi ist jedoch nicht nach Skifahren, obwohl ihm etwas Bewegung guttun würde nach all den Jahrtausenden im Eis. Auch den „Funpark für Freestyler" als „Highlight für sportliche Fahrer" lässt er links liegen, da er schon gar nicht weiß, was das sein soll.
Much risk – no fun
In seinem Beruf als jungsteinzeitlicher Händler hatte Ötzi bei der Überquerung der Berge weniger Fun. Er musste sich eher vor Angreifern schützen, wie eine von den Gerichtsmedizinern entdeckte Pfeilwunde an der linken Schulter belegt. Seine „Funktionskleidung" bestand aus Fellstücken von Ziegen und Schafen, die zusammengebunden waren, sein Schuhwerk war durch eine Sohle aus Bärenfell verstärkt.
Beim Après-Ski hätte Ötzi, der offenbar wohlhabend war, wie man aus seinem relativ guten Ernährungszustand schließt, eine bella figura gemacht. Doch Ötzi zieht es weiter, um sich seine alte Heimat weiter anzuschauen.
Blech, wohin das Auge blickt
Schon aus der Höhe kann der Mann aus dem Eis erkennen, dass ein Strom von farbigen Kisten unaufhörlich die Täler seiner Jugend durchstreift. Mit einem andauernden Brummen ist es ein ständiges Hin und Her in die Seitentäler, ob zur Plose, zum Kronplatz, zu den Drei Zinnen, dem Gadertal, dem Fassatal oder dem Villnößtal, das später noch eine besondere Bedeutung für ihn gewinnen sollte.
Hier steppt der Bär
Das benachbarte Grödnertal kennt Ötzi von früheren Wanderungen zu seinen Kunden südlich der Alpen. Einmal hatte er dort schon am Fuße des Langkofels in einer Höhle übernachtet, wo ihn im rötlichen Abendlicht eine neugierige Bärin erschreckte…
Jetzt, Jahrtausende später, tobt hier im Winter wie im Sommer der Bär. Neben übervollen Parkplätzen rotieren High-Tech-Liftanlagen mit beheizbaren Polstersitzen und klappbaren, transparenten Plastikglashauben als Windschutz. Sie schaufeln die Besucher in die Höhe, in einer Art alpinem Kreisverkehr. Rund um das Sellamassiv wollen sie die sogenannte Sella Ronda fahren. Nach gut 40 Kilometern, davon 27 Kilometer Skipisten, kommen die Sportler dann wieder am Ausgangspunkt an, das bedeutet: 13 Kilometer sitzen oder stehen sie in den diversen Transporthilfen.
Schlafende Drachen
Ötzi versteht diese Welt noch nicht ganz und zieht staunend weiter. Auf dem Passo Sella kommt er vorbei an riesigen Garagen, in denen tagsüber, wie gebändigte, schlafende Drachen, die Pistenraupen auf ihren Einsatz warten. Jede Nacht sorgen sie dann, mit modernster Elektronik und gleißenden Halogenleuchten ausgestattet, für perfekt gespurte Pisten.
Ötzi passiert auf dem Weg zum nächsten Tal auch das Skigebiet Bellvedere und sieht unzählige Skikanonen, deren Zweck er zunächst nicht erkennt. Später erfährt er, dass sie Wasser aus eigens angelegten Stauseen oder Bächen bei Minusgraden nächtens fein zerstäuben und in Kunstschnee verwandeln. Die Bezeichnung „Kunstschnee" ist jedoch laut Dolomiti Superski, dem zweitgrößten Pistenverbund der Welt mit über 1.200 Kilometern vorwiegend planierten Schneeautobahnen, out! Es müsse nach ihrer Ansicht stattdessen heißen „technischer Schnee", da keine Chemikalien oder Kunststoffe verwendet würden.
Anmerkung am Rande: Wegen Wasserknappheit wurde das gesetzliche Ende der Beschneiungszeit in Südtirol um einen Monat vorverlegt. Anteil künstlich beschneiter Pisten: Italien 90 %, Österreich 70 %, Schweiz 50 %, Deutschland 25 %.
Der Klimawandel ist schlecht für das Geschäft
Den Investoren und Betreibern ist trotzdem klar, dass der lange geleugnete Klimawandel jetzt dabei ist, ihnen die Geschäftsgrundlage mit dem „Naturerlebnis Alpen" (Zitat aus der Tourismuswerbung) zu entziehen. Nach Beurteilung fast aller Forschungsinstitute und inzwischen auch der Liftbetreiber selbst haben Standorte unterhalb von 1.800 Metern Höhenlage keine Zukunft mehr – jedenfalls nicht zum alpinen Skifahren mit den entsprechenden Einnahmen. Damit droht eine der Haupteinnahmequellen für viele Alpendörfer wegzubrechen, zusammen mit der gesamten Wertschöpfungskette – vom Almdudler bis zur Übernachtung. Nach den Recherchen der internationalen Alpenschutz-Organisation Cipra hält gleichwohl der Trend zum alpinen Schneller, Höher, Weiter an. Alleine die Dolomiti Superski Betreibergesellschaft S.I.T.C. in Canazei, Fassatal, hat folgende Bauvorhaben in Planung:
- Kronplatz bei Bozen: Erweiterung der Beschneiungsanlagen
- Seiser Alm: neuer Sechser-Lift für 2.200 Personen Kapazität pro Stunde
- Carezza: neue Pendelseilbahn
- Plose: neue Kabinenbahn „St. Andrea"
- Drei Zinnen: neuer Skilift „Doris"
- Rodella: Cinque Dita, Revision und Ausbau des Sessellifts
- Belvedere: neues Speicherbecken mit einem Fassungsvermögen von 120.000 Kubikmetern in das eigentlich als Unesco Welterbe ausgewiesene Gebiet am Pordoijoch
Dabei lag der kommerzielle Gesamtumsatz mit der Landschaft im europäischen Alpenbogen – von Slowenien bis zu den französischen Seealpen – bereits zur Jahrtausendwende bei geschätzten 45 Milliarden Euro. Inzwischen werden gut frequentierte Hütten und Hotels für höhere zweistellige Millionen-Eurobeträge an Investoren aus Singapur oder dem Ostblock verkauft. Das Bauernfrühstück mit hausgemachten Bratkartoffeln musste dem gut abgehangenen Kobe-Rindersteak aus Japan, mit ein paar bretonischen Austern vorweg, weichen.
Wo bleibt da die Natur?
Ötzi blickt hinüber zu dem mächtigen Dolomiten-Klotz Langkofel, der in einer aufkommenden Schlechtwetterfront schon in den grauen Wolken verschwindet. Hier passiert zur Zeit Erstaunliches: Zum ersten Mal sollen die angrenzenden Gemeinden wie St. Ulrich, St. Christina oder Selva / Wolkenstein selbst darüber entscheiden, bestimmte Gebiete unter einen strengeren Schutz der Natura 2000-Verordnungen zu stellen. Das an die Felswände angrenzende Gebiet der sogenannten Confinböden, in deren Geröllfeldern sich wichtige Quellen und Arten befinden, war bisher nur als Unesco Welterbe klassifiziert. Natura 2000 könnte damit ein Liftprojekt entlang des Langkofel-Sockels, das die Dolomiti Superski-Gebiete weiter miteinander verbinden sollte, verhindern und bedrohte Natur retten.
Die kritische Auseinandersetzung mit den technischen Eingriffen in die Dolomiten nimmt bereits seit Jahren zu. Durch die zunehmenden Felsstürze und Schlammlawinen scheint es nun auch in den Chefetagen und bei Investoren angekommen zu sein, dass es nicht mehr heißt: „Der Berg ruft", sondern „der Berg kommt".
Jetzt werden auch Berichte von Wissenschaftlern und Instituten wie dem Münchner Forschungsstelle Ökologie oder der Cipra ernst genommen. Denn anders als in den Nachhaltigkeitsberichten der Liftgesellschaften ist der Alpenboden nicht durch „Begrünungen" auf die Schnelle zu ersetzen, und um wieder die gleiche Artenvielfalt wie früher zu erreichen, braucht es Jahrhunderte.
Ötzi im Einwohnermeldeamt
Vielleicht könnte Ötzi das alles noch miterleben. Doch seine Flucht endet schließlich in Bozen im Einwohnermeldeamt am Rathausplatz 5. Dort möchte er endlich ordentliche Papiere haben, um sein neues Leben im Jahr 2023 zu beginnen.
„Wo geboren?", fragt der Beamte.
„Irgendwo in Andalusien, deshalb mein dunkler Haut-Teint", meint er.
„Egal, schreiben wir Südtirol, vielleicht Villnößtal?"
„Ok."
„Beruf?"
„Händler!"
„Ok, mit was gehandelt?"
„Hmm, ich hatte nur noch mein Messer, meine Axt und meinen Bogen dabei, als ich aufwachte", sagt Ötzi.
„Messer", meint der Beamte, „also bist du ab jetzt der Messner."
Der Beamte macht zufrieden das neue Ausweisdokument fertig und fügt noch den Vornamen Reinhold ein. Aber das ist jetzt eine andere Geschichte.
Der Klimawandel holte den Ötzi aus dem Eis. Gründe für die Eisschmelze lagen auch direkt vor seiner Nase – energieintensive Pistenraupen, künstliche Beschneiung, Skilifte und lange Verkehrsschlangen. Die Zukunft des Skiurlaubs soll deshalb nachhaltiger werden – damit nicht noch mehr Ötzis aus dem Eis tauen.
Sebastian Knauer war viele Jahre Redakteur beim Nachrichtenmagazin der Spiegel und beim stern, ist Buchautor, begeisterter, aber nur mäßiger Skifahrer und bekennender Alpenfreund.
Lifestyle | Sport & Freizeit, Reisen, 17.11.2023
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2023 mit dem Schwerpunkt Innovationen & Lösungen - Innovationen und Lösungen für Klima und Umwelt erschienen.
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