"Wer die Demokratie retten will, muss den Willen zur Macht eindämmen."
Christoph Quarch analysiert die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen aus philosophischer Perspektive
Nun ist es also passiert: Die AfD gewinnt die Wahl in Thüringen und wird in Sachsen zur zweitstärksten Kraft. Und als ob das für Demokraten alter Schule nicht genug wäre, kommt das BSW aus dem Stand auf knapp 12 bzw. 16 Prozent. Die Regierungsparteien sind geschockt, die Union steht vor einem Dilemma, die Wirtschaft ist besorgt – und die Meinungsforscher und Experten überbieten sich in Erklärungsversuchen: Die Wähler seien unzufrieden mit der Bundespolitik, litten unter der Inflation, fühlten sich nicht ausreichend gehört oder seien gekränkt durch westdeutsche Bevormundung. Um dem beizukommen, müsse man den Menschen mehr Gehör schenken und ihre Sorgen klarer adressieren. Doch man fragt sich: Wurde das nicht alles schon versucht? Wieso verliert die Demokratie trotzdem an Boden? Darüber reden wir mit dem Philosophen und Autor Christoph Quarch.
Herr Quarch, haben die demokratischen Kräfte in Thüringen und Sachsen versagt?
Ich glaube, eine der wichtigsten Lehren, die Demokraten aus diesen Landtagswahlen ziehen müssen, ist, dass wir ein paar unserer stereotypen Reaktionsmuster infrage stellen sollten: allen voran den Reflex, die Gründe für den anti-demokratischen Trend in Ostdeutschland bei sich selbst zu suchen. Es könnte ja sein, dass die Menschen in Thüringen und Sachsen nicht deshalb AfD und BSW wählen, weil sie damit auf Demokratieversäumnisse reagieren oder ihrer Unzufriedenheit mit der Ampel Ausdruck verleihen wollen, sondern weil sie das politische System der Bundesrepublik grundsätzlich ablehnen: dass sie nicht demokratische Protestwähler, sondern – egal ob bewusst oder nicht – antidemokratische Gesinnungswähler sind.
Sowohl in Sachsen als auch in Thüringen haben deutlich über 70 Prozent der Bürger Ihre Stimme abgegeben. Da kann man doch wohl kaum von einer antidemokratischen Stimmung reden.
Dass Menschen zur Wahl gehen, ist noch lange kein Ausweis für eine intakte Demokratie. Dafür gibt es hinreichend Beispiele aus autokratischen Präsidialdiktaturen. Denn was geschieht dort? Die Wahlen werden gebraucht als Legitimationsinstrument für Potentaten, die nach eigenem Gutdünken das Land regieren. Wer nun Parteien wählt, die ihren Wählern einen solchen „starken Mann" oder wie beim BSW eine „starke Frau", die alle ihre Probleme lösen, in Aussicht stellen, folgt einem Mindset auf, der keineswegs demokratisch ist; auch nicht, wenn er laut „Wir sind das Volk" oder „Wir sind der Souverän" ruft. Dummerweise haben wir für dieses Mindset keinen eigenen Begriff. Aber da hilft ein Blick in die Vergangenheit. Die griechischen Pioniere der Demokratie haben diese Denkweise gut beschrieben und ihr den Namen Ochlokratie gegeben.
Ich fürchte, diesen Begriff müssen Sie uns erklären.
Das ist nicht so einfach. In den einschlägigen Übersetzungen findet man meistens das Wort „Pöbelherrschaft" – was ziemlich diffamierend klingt. Die Idee dahinter aber ist bestechend: Der demos – also das Subjekt der Demokratie – ist eine Gemeinschaft von Menschen, die sich als Gemeinschaft versteht und darauf bedacht ist, die für sie als Gemeinschaft besten Lösungen zu finden. Der ochlos – das Subjekt der Ochlokratie – ist eine Gruppe von Menschen, die sich zusammentut, weil sie sich davon die jeweils für sie als einzelne besten Maßnahmen erhofft. Kurz: Demokratie lebt vom Gemeinsinn, Ochlokratie vom Eigensinn. Deshalb haben ochlokratisch gesinnte Menschen zumeist große Sympathien für „starke Männer" wie Putin, weil sie sich von solchen Potentaten mehr eigene Vorteile versprechen als von ständig kontrovers diskutierenden demokratischen Regierungen.
Aber das heißt doch, dass die – wie Sie sagen – „kontrovers diskutierenden demokratischen Regierungen" durchaus eine Mitschuld am Erstarken von BSW und AfD tragen.
Sagen wir mal so: die aktuelle politische Landschaft in Deutschland begünstigt das Erstarken ochlokratischer Parteien wie AfD und BSW. Aber nicht nur die Ampel, sondern genauso die Union, die zunehmend ins ochlokratische Lager hinüberreicht. Markus Söders jüngste Hasstirade gegen die Grünen ist ein Indiz dafür. Und zwar deshalb, weil sie sich genau des Musters bediente, mit dem Ochlokraten ihre Wähler ködern. Sie machen sich ein Phänomen zunutze, das Friedrich Nietzsche den „Willen zur Macht" nannte: Die Menschen – und das scheint mir Ostdeutschland weit verbreitet zu sein – wollen Macht. Und die versprechen sie sich von den Parteien, die sie wählen. Der Deal ist dabei stets derselbe: Ich ermächtige den „starken Mann" bzw. „die starke Frau", damit sie mich ermächtigen, Macht über die noch Schwächeren auszuüben: Migranten, Minderheiten, Muslime, Frauen… So banal es ist, so gut scheint es noch immer zu funktionieren. Deshalb: Wer die Demokratie retten will, muss den Willen zur Macht eindämmen. Und das geht nur, indem man für etwas Besseres wirbt als für Macht: für Gemeinschaft, für ein gerechtes und friedliches Miteinander, für Menschlichkeit – all das, um dessen Willen die Demokratie erfunden wurde.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 03.09.2024
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