Deutsche (Männer) lesen immer weniger
Christoph Quarch wünscht sich eine Kampagne von Buchhandel und Politik, um Leser zurückzugewinnen
Stell dir vor, es ist Buchmesse, und keiner geht hin! Nein, ganz so weit ist es noch nicht, aber der Tag könnte kommen, an dem dieses Szenario zur Realität wird. Denn die Deutschen lesen immer weniger. Das jedenfalls lehrt eine Studie, die das Statistische Bundesamt anlässlich der Frankfurter Buchmesse auf Grundlage einer Zeitverwendungserhebung vorgestellt hat. Durchschnittlich nur noch 27 Minuten pro Tag verbringen Menschen ab 10 Jahren demnach mit dem Lesen von gedruckten oder digitalen Medien. Das sind 5 Minuten weniger als noch vor zehn Jahren. Gleichzeitig ist die durchschnittliche Verweildauer vor dem Fernseher um 4 Minuten gestiegen. Wie kommt das und was macht es mit einer Gesellschaft, wenn immer weniger gelesen wird. Darüber reden wir mit dem Philosophen und Autor Christoph Quarch.
Herr Quarch, wie geht es Ihnen als Autor, wenn Sie hören, dass die Menschen heute weniger lesen als früher?
Natürlich bin ich nicht glücklich darüber, aber auf der anderen Seite überrascht es mich auch nicht. Der Trend ist nicht neu, und nicht erst seit gestern schauen meine Studierenden mich mit großen Augen an, wenn ich sie frage, was für ein Buch sie gerade lesen. Als Autor muss ich Konsequenzen daraus ziehen: Kürzere und niederschwelligere Bücher schreiben, Inhalte mehr über Podcasts und Videos vermitteln. Das setzt aber Kompetenzen voraus, die nicht jeder Autor vorweisen kann und die auch ich mir erst aneignen musste – teilweise widerwillig, wie ich freimütig gestehe. Denn ich liebe das geschriebene Wort und bin zutiefst überzeugt, dass Lesen und Schreiben Kulturtechniken sind, die nicht verloren gehen dürfen.
Aber genau das könnte passieren: Texte werden zunehmend maschinell produziert und Informationen über audiovisuelle Medien transportiert – und wenn sie doch geschrieben werden, dann möglichst knapp und komprimiert.
Damit sind wir beim eigentlichen Problem: Wir neigen heute dazu, Lesen in erster Linie als Aneignung von Informationen zu verstehen. So wie wir die Sprache überhaupt als Instrument der Informationsvermittlung deuten. Genau das halte ich aber für ein Missverständnis. Ein einfacher Blick auf die Sprachgeschichte lehrt, dass die Sprache ursprünglich nicht dazu diente, Informationen auszutauschen, sondern die Dinge dieser Welt und die eigenen Befindlichkeiten zu bekunden. Deshalb ist die älteste Sprache poetisch und mythisch. Deshalb wurden Texte früher mehr gesungen als gesprochen. Deshalb wurde laut gelesen. Und je mehr laut gelesen wurde, desto eher waren die Menschen in der Lage, sich und die Welt zur Sprache zu bringen. Das ist beim stillen Lesen von heute nicht anders: Wenn wir nicht mehr lesen, verflacht unsere Sprache. Und wenn unsere Sprache verflacht, verlieren wir uns und die Welt.
Aber woran liegt das? Warum lesen wir immer weniger? Allein an den digitalen Medien kann es nicht liegen, denn die digitale Lektüre ist in die genannte Statistik mit einbezogen.
Die Lektüre digitaler Texte, aber nicht der Konsum digitaler Bilder. Ich denke, das ist der springende Punkt: Der Bilderkonsum erfordert weniger kognitiven Aufwand als die Textlektüre – und kann gleichzeitig eine stärkere emotionale Ansprache bewirken, was in der Aufmerksamkeitsökonomie der Digitalwirtschaft der wichtigste Erfolgsfaktor ist. Aber es wäre zu einfach, nur die Bildlastigkeit digitaler Medien ins Feld zu führen. Mindestens so gravierend ist eine Abwärtsspirale im Bereich des geschriebenen Wortes: Dass immer weniger gelesen wird, führt zu einem Schwund der literarischen Qualität. Autoren passen sich an ihre Leserschaft an – sie können gar nicht anders; zumal dann, wenn sie selbst kaum noch hochwertige Texte zu lesen bekommen. Eine immer seichtere Literatur findet aber immer weniger Leser. Ich jedenfalls frage mich bei 90 Prozent der belletristischen Neuerscheinungen, warum ich es mir antun sollte, so etwas zu lesen.
Vielleicht hat das etwas mit Ihrem Geschlecht zu tun. Die aktuellen Zahlen zeigen, dass Frauen mit durchschnittlich 30 Minuten am Tag deutlich lesefreudiger sind als Männer, die es nur auf 24 Minuten bringen. Ist das Lesen eine eher weibliche Praxis?
Es scheint so; zumindest im Bereich der Belletristik. Ob aus biologischen oder sozialen Gründen, wage ich nicht zu entscheiden: aber Frauen haben heutzutage offenbar mehr Freude an guten Geschichten als Männer. Vielleicht haben sie den Zugang zu der ursprünglichen Bedeutung der Sprache bewahrt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Verlage längst auf diese Zahlen reagiert haben und immer mehr Frauenliteratur auf den Markt bringen, was dann dazu führt, dass der Frauenanteil unter den Lesern zunimmt. Ich für meinen Teil bin nicht glücklich darüber, da ich mit Sorge sehe, wie die Spracharmut gerade bei meinen Geschlechtsgenossen immer mehr um sich greift. Vor allem im öffentlichen Raum. Von daher würde ich mir eine Kampagne von Buchhandel und Politik wünschen, die gezielt Männer anspricht, um sie als Leser zurückzugewinnen.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
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Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
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