BIOFACH 2025

Depression ist die neue Volkskrankheit

Um den Trend zu stoppen empfiehlt Christoph Quarch einen Kommunikations- und Perspektivenwechsel - auch der Medien

Neuneinhalb Millionen Menschen, das sind 12,5 Prozent der deutschen Bevölkerung, sind laut einer jüngst veröffentlichten Studie der AOK davon betroffen. Tendenz steigend. Vor allem bei jungen Menschen schnellt die Zahl der Depressionserkrankungen nach oben. Die Krankenversicherer schlagen Alarm und weisen auf den volkswirtschaftlichen Schaden hin: 2,2 Prozent aller Krankheitskosten werden inzwischen durch Depressionen verursacht. Hinzu kommt eine hohe Zahl von Fehltagen bei Werktätigen. Was ist hier los? Und kann man diesem Trend etwas entgegensetzen? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
 
Herr Quarch, aus Sicht des Philosophen: Wie kann es sein, dass in einem relativ wohlhabenden Land wie Deutschland so viele Menschen unter Depressionen leiden?
© patricajjoslin, pixabay.comDie Frage ist nicht leicht zu beantworten, da es immer konkrete Menschen mit einer konkreten Lebensgeschichte in einer konkreten Lebenssituation sind, denen einen Depression diagnostiziert wird. Deshalb ist es schwierig, allgemeine Gründe und Ursachen zu ermitteln. Die hohe Quote der Betroffenen legt aber nahe, dass es kollektive Probleme in unserer Gesellschaft gibt, die das Entstehen von Depressionen mindestens begünstigen. Einsamkeit ist ein solches Problem, das häufig mit Depressionen in Verbindung gebracht wird. Für mich reicht das aber nicht weit genug. Denn man muss sich fragen, warum so viele Menschen heute einsam sind. Meine Antwort lautet: Weil wir uns ein Mindset antrainiert haben, der dazu führt, dass Menschen immer mehr um sich selbst kreisen und zunehmend unfähig sind, Verbindungen mit anderen einzugehen. Depression scheint mir die Folge schwindender sozialer und kommunikativer Kompetenz zu sein. 

Wollen Sie damit sagen: Wer depressiv wird, ist selbst schuld daran, weil er nicht genügend mit anderen Menschen kommuniziert?
Nein, das wäre zu leicht; vor allem deshalb, weil es hier keine einfachen Verursachungen oder Schuldzuweisungen gibt. In meinem Verständnis werden Menschen depressiv, wenn sie keine Sinnperspektiven mehr haben – wenn sie nichts mehr finden, wofür sie brennen oder was sie begeistert; ja, wenn es nichts mehr gibt, das sie bejahen können. Begeisterung und Leidenschaft aber sind etwas, das im Raum zwischen den Menschen entsteht: wo sie etwas gemeinsam tun, wo sie sich in etwas Gemeinsamen finden können. Das wird aber nur dann geschehen, wenn man sich für die Welt und andere öffnet – genau das, was depressiven Menschen schwer fällt. Wenn man einmal in der Spirale der Selbstbezüglichkeit gefangen ist, wird es verdammt schwer, wieder rauszukommen. Das kann man niemandem ankreiden. 

Frauen sind der AOK-Studie zufolge in allen Altersklassen häufiger von Depressionen betroffen als Männer. Hat das damit zu tun, dass Frauen sozialer veranlagt sind als Männer und dementsprechend auch mehr unter Einsamkeit leiden.
Vielleicht, gravierender aber scheint mir zu sein, dass sich in den letzten 50 Jahren ein Frauenbild durchgesetzt hat, das Frauen in hohem Maße dazu hält, sich stärker um sich selbst zu kümmern, Karriere zu machen, erfolgreich zu sein und dergleichen. Das heißt: Sie sind häufig anfällig, den Verführungen des allgegenwärtigen Menschenbildes des Homo Oeconomicus zu erliegen, das uns einreden will, der Mensch sei allem voran ein rationaler Egoist, der bei allem, was er tut, seinen eigenen Interessen folgt. De facto aber ist der Homo Oeconomicus ein Soziopath: einer, der keine Beziehungen mehr einzugehen vermag. Deshalb muss es niemanden überraschen, wenn eine von ihm geprägte Gesellschaft soziopathisch wird. Und wenn sie erst soziopathisch ist, dann ist die Depression nicht mehr weit, weil Sinn und Erfüllung nur zwischen den Menschen wachsen.

Was müsste Ihrer Ansicht nach geschehen, um die Depressionsrate zu drosseln? 
Ich glaube, wir müssen einiges daran ändern, wie wir in Deutschland miteinander umgehen. Es tut uns nicht gut, wenn wir nur um unsere eigenen Interessen und Befindlichkeiten kreisen; wenn wir im öffentlichen Diskurs nur noch darauf schauen, dass wir uns durchsetzen und um Gottes willen nicht zu kurz kommen; wenn wir uns bei jeder Gelegenheit gekränkt oder nicht wertgeschätzt fühlen – und uns nicht scheuen, andere zu kränken und geringzuschätzen. Hier sind auch die Exponenten im Öffentlichen Raum gefragt. Das ewige Rumgenörgele und Gejammere von Lobbyisten und Oppositionspolitikern ist mentales Gift. Ebenso das Aufeinander-Rum-Gehacke. Dem sollten wir keine Aufmerksamkeit schenken, sondern der Fokus auf all das Gute und all die Potenziale richten, die es nach wie vor gibt. Hier sehe ich auch uns in den Medien in der Pflicht, mehr für den Gemeinsinn zu tun. 

 
Der Philosoph Christoph Quarch schreibt regelmäßig für forum Nachhaltig Wirtschaften. © Christoph Quarch

Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
 
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.

Lesen Sie mehr von ihm unter www.christophquarch.de

Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel". 

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