Eindämmung der Barbarei durch Kultur
Angesichts der aktuellen Zahlen über die Zunahme der Sexualstraftaten und Femizide nimmt Christoph Quarch v.a. die Männer in die Pflicht
Statistisch gesehen gibt es fast jeden Tag in Deutschland einen Femizid: ein Tötungsdelikt gegen Frauen oder Mädchen, verübt aus einem patriarchalen Weltbild, aus Frauenhass oder frauenfeindlicher Ideologie. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs: Nach jüngsten Angaben des Bundeskriminalamtes wurden im Jahr 2023 mehr als 52.000 Frauen oder Mädchen Opfer von Sexualstraftaten wie Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Nötigung. Das sind 6,2 Prozent mehr als im Vorjahr. Und im Bereich häusliche Gewalt wurden sogar mehr als 180.000 weibliche Opfer gezählt, was einem Zuwachs von 5,6 Prozent entspricht. Wie kann das sein – in einem aufgeklärten Land wie Deutschland? Was steckt dahinter? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, haben Sie eine Erklärung für diese Woge von Gewalt gegen Frauen?
Als erstes muss ich sagen, dass mich diese vom BKA veröffentlichten Zahlen zutiefst erschüttern und empören. Gewalt gegen Frauen, Hass gegen Frauen – das sind männliche Verhaltensweisen, von denen ich wirklich geglaubt habe, dass sie irgendwann einmal der Vergangenheit angehören würden. Aber das ist offenbar ein Irrtum. Eine große Zahl meiner Geschlechtsgenossen scheint in voraufklärerische Rollenmuster zurückgefallen sein, die ich mir nur dadurch erklären kann, dass unsere Gesellschaft es über mehrere Generationen versäumt hat, ein konstruktives Männerbild oder Männlichkeitsideal zu vermitteln. Die Spezies des Gentleman scheint ebenso ausgestorben wie die des ehrbaren Kaufmanns oder des pflichtbewussten Vaters. Wann ist ein Mann ein Mann? Wir haben keine ernstzunehmende Antwort mehr auf diese Frage. In diesem Vakuum wuchert die blanke Barbarei.
Aber das erklärt noch nicht diesen Anstieg der Gewalt, die gegen Frauen ausgeübt wird.
Das stimmt. Da kommt noch ein anderer Faktor hinzu, nämlich der generelle Anstieg von Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft. Den Grund dafür vermute ich darin, dass Gewalt in unserer medialen Wirklichkeit zu einem Konsumgut geworden ist. Nicht nur die Filmbranche und das Netz, selbst die öffentlich-rechtlichen Medien überfluten uns mit Gewaltdarstellungen. Gewalt scheint normal zu sein. Man bekommt es ständig vorgemacht. Die Hemmschwelle wird geringer – und umgekehrt proportional steigt das Aggressionslevel. Die Menschen sind leichter entflammbar. Und wenn es dann an einem tragfähigen Ethos fehlt – an kulturellen Vorbildern, die Männern helfen, ihre Aggressionen zu beherrschen, dann bricht sich die Gewalt Bahn – physische und virtuelle.
Aber warum ausgerechnet gegen Frauen – meistens sogar gegen die eigene Partnerin?
Auch da gibt es keine einfache Antwort. Einerseits, weil Frauen sich oft schlechter wehren können – oder weil sie (immer noch) wirtschaftlich abhängig von den Tätern sind. Andererseits aber auch, weil in den sozialen Medien, in fundamentalistisch-religiösen Kreisen und in der Propaganda rechtspopulistischer Parteien ein unverhohlener Frauenhass verbreitet wird – meist verbunden mit einem grauenvollen und vor allem falschen Männlichkeitsideal, das Brutalität, physische Gewalt, Skrupellosigkeit und Ignoranz als männliche Qualitäten verbrämt. Leute, die so etwas verbreiten, sind gefährliche Brandstifter. Wenn es nach mir ginge, müsste man jede Form von anti-weiblicher Volksverhetzung mit allen gebotenen Mitteln des Rechtsstaats konsequent verfolgen und hart bestrafen.
Fällt dem Philosophen wirklich nichts Besseres ein als der Ruf nach strengeren Gesetzen? Das kann doch nicht alles sein?
Einverstanden. Aber alles andere dauert zu lange. Und hier gilt es Frauenleben zu retten. Es gibt ja nicht nur die 360 Femizidopfer pro Jahr, sondern auch knapp 1000 versuchte Femizide. Da gibt es keine Zeit zu verlieren. Langfristig aber – das habe ich ja schon angedeutet – brauchen wir dringend die kollektive Anstrengung aller Kulturschaffenden, Medien, Bildungsverantwortlichen, Politiker usw. für ein neues Männerbild und eine neue Wertschätzung des Weiblichen. Außer mit den Mitteln des Rechts lässt sich die Barbarei nur durch Kultur eindämmen. Da stehen wir alle in der Pflicht. Vor allem wir Männer. Es liegt an uns voranzugehen: mit Zivilcourage jeder Form von Frauenhass zu begegnen und mutig dafür zu kämpfen, dass Frauen und Mädchen vor Gewalt geschützt sind.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Megatrends, 25.11.2024
Pioniere der Hoffnung
forum 01/2025 erscheint am 01. Dezember 2024
- Trotz der aktuellen Wahl- und Politikdesaster, die wenig Hoffnung machen, setzt das Entscheider-Magazin forum Nachhaltig Wirtschaften ein klares Zeichen und zeigt umso deutlicher, dass positiver Wandel möglich ist – auf ökologischer, ökonomischer, sozialer und politischer Ebene.
Kaufen...
Abonnieren...
28
NOV
2024
NOV
2024
17. Deutscher Nachhaltigkeitstag
Transformation im Gegenwind - Verleihung des Deutschen Nachhaltigkeitspreises
40474 Düsseldorf
Transformation im Gegenwind - Verleihung des Deutschen Nachhaltigkeitspreises
40474 Düsseldorf
28
NOV
2024
NOV
2024
10
DEZ
2024
DEZ
2024
Professionelle Klimabilanz, einfach selbst gemacht
Einfache Klimabilanzierung und glaubhafte Nachhaltigkeitskommunikation gemäß GHG-Protocol
Politik
Keine Zeit für Klimaschutz?Christoph Quarch erinnert zur COP29 daran, trotz Regierungskrise, Wirtschaftskrise, Inflation und Krieg in der Ukraine eine effiziente Klimapolitik zu verfolgen