Morgenstadt

Unser Leben in der Zukunft

Schnellladestation - Tanken wie beim Benziner. Im intelligenten Netz können Elektroautos durch ihre Speicherkapazität eine Lastausgleichsfunktion übernehmen.
Foto: © Siemens-Pressebild
Mehr Verkehr, der aber fließt
Die technologische Schwierigkeit, Stromüberschüsse kostengünstig zu speichern ist überwunden. Damit können die zeitlich stark schwankenden Energiezufl üsse aus den erneuerbaren Quellen ausgeglichen werden, was das Lastmanagement im Smart Grid erheblich erleichtert.

Als praktisch bedeutende Energiespeicher erweisen sich die Elektroautos. Sie können zu Zeiten überschüssiger Einspeisung aus erneuerbaren Quellen preiswert aufgeladen werden, zu Spitzenlastzeiten dagegen eine Lastausgleichsfunktion übernehmen. Hinzu kommt, dass die Fahrzeugbatterien nach ihrem mobilen Einsatz als stationäre Speicher weiterverwendet werden können. Der elektrochemischen Stromspeicherung ist allerdings dank substantieller Forschungs-investitionen eine starke Konkurrenz in Form des primären Energieträgers Wasserstoff erwachsen. Der erfolgreiche Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft zeichnet sich ab: Überregionale Stromüberschüsse dienen der elektrolytischen Herstellung von Wasserstoff, der wiederum zur Energiegewinnung, zum Beispiel in Brennstoffzellen oder Turbinen, eingesetzt werden kann. Die Energie aus Brennstoffzell-Aggregaten substituiert dank höherer Wirkungsgrade schrittweise Blockheizkraftwerke. Das gut ausgebaute Smart Grid von Morgenstadt bezieht auch die intelligente Steuerung der Gebäudetechnik ein. Viele Menschen haben in ihren Wohnungen Sensoren installiert, die dafür sorgen, dass Strom für Heizungspumpen oder Licht nur im Bedarfsfall verbraucht wird. Sie nutzen die zu Schwachlastzeiten günstigen Stromtarife, um Wasch- oder Spülmaschinen zu betreiben. Durch zeitlich abhängige Stromtarife modulieren die Morgenstädter Stadtwerke die Nachfragespitzen und gleichen sie den Erzeugungsspitzen an: Strom ist am günstigsten, wenn ein Überangebot vorhanden ist und am teuersten, wenn eine Unterversorgung droht.

Die Preise für die netzgebundenen Energieträger Wärme und Strom und damit zum Beispiel auch für die Warmwasserbereitung variieren also teilweise stark zwischen verschiedenen Tageszeiten. Die Bewohner von Morgenstadt wissen, dass sie als private Energiemanager ihrer Wohnungen nachhaltig sparen können. Für Immobilieneigentümer zählt die Nutzung der Solartechnik zur Stromund zur Wärmegewinnung zum Standard. Hybridkollektoren erzeugen Solarstrom und Solarwärme und nutzen damit die begrenzten Dach- und Fassadenflächen der Stadt sehr effizient aus. Viele Mieter haben bei Vertragsunterzeichnung gleichzeitig Anteilsscheine für die Solaranlage auf ihrem Dach erworben, wofür sie auch Elektropunkte zum "Betanken" ihrer E-Fahrzeuge eintauschen können.

Das Verkehrsaufkommen in Morgenstadt ist nicht geringer als heute. Im Gegenteil: Es hat zugenommen, weil sich die Zahl der Ein- und Zweipersonenhaushalte und damit die individuellen Mobilitätsbedürfnisse der Menschen weiter erhöht haben. Das ist aber nicht spürbar, weil der Verkehr fließt und Staus selten sind. Intelligente Verkehrsmanagementsysteme, über die Fahrzeuge miteinander und mit ihrer Infrastruktur kommunizieren, steuern den Verkehr fast reibungslos. Entlastet wurde der Individualverkehr durch einen starken Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und durch umfassende Mobilitätskonzepte. In den Wohnbezirken hat sich das Konzept des "Shared Space" durchgesetzt, in dem sich Fußgänger, Radfahrer und Automobile den öffentlichen Verkehrsraum gleichberechtigt teilen und aufeinander Rücksicht nehmen. Auf den Verbindungs- und Durchgangsstraßen der Stadt bleiben Fuß-, Fahrrad-, Schienen- und Autowege voneinander getrennt. Automobile behalten dort prinzipiell Vorrang. Die Bürgersteige sind dort breit und begrünt angelegt und das Fahrradwegenetz dicht, sicher und übersichtlich ausgebaut.

Elektrofahrzeuge sind zum beherrschenden Verkehrsmittel des Individualverkehrs in der Stadt geworden. Für sie müssen im Gegensatz zu Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren weder eine Innenstadtmaut noch Parkgebühren entrichtet werden. Ihre Attraktivität erhöht sich durch flexible und wirtschaftliche Mobilitätsservicekonzepte, in die auch Elektrofahrräder (Pedelecs) einbezogen sind. Wer es eilig hat, wird überall im Stadtgebiet ein freies, im öffentlichen Raum abgestelltes E-Mobil finden, das er über sein Mobiltelefon finden, freischalten, nutzen und an einem beliebigen Ort innerhalb der Stadt wieder abstellen kann. Die Abrechnung der Nutzung erfolgt über eine Mobilitätskarte, die Flatrates für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) mit Gebühren für E-Mobil- Dienste kombiniert.

Große Wohnungsbaugesellschaften bieten die Mobilitätskarte als Teil der Mietleistung an. Mobil übermittelte Echtzeitinformationen über Verbindungen, Verspätungen oder interessante Veranstaltungen sind für die Nutzer des ÖPNV selbstverständlich geworden. Auch spontane Fahrten lassen sich so zeitgenau organisieren. Senioren, für die die komplizierten Ticketautomaten und Fahrpläne des ÖPNV früher kaum durchschaubar waren, loben dessen neue Nutzerfreundlichkeit. Die Verknüpfung des ÖPNV mit dem Fernverkehr einerseits und dem Fuß- und Fahrradverkehr andererseits ist auch für auswärtige Besucher schnell nachvollziehbar. Die hohe Elektromobilität - ob schienengetrieben oder gummibereift - hat die Belastung der Bewohner durch Lärm und Abgase deutlich gesenkt.

Dazu tragen auch neue Rahmenbedingungen und Technologien im Güter- und Wirtschaftsverkehr bei, der sich bundesweit trotz aller verkehrsplanerischen Anstrengungen seit der Jahrhundertwende mehr als verdoppelt hat. Seine Fracht wird zur Distribution in der Innenstadt an Umschlagplätzen am Stadtrand umgeladen, vorwiegend auf City-E-Mobiltransporter. Weil aber auch zu viele E-Laster die Straßen von Morgenstadt überlasten würden, wird ein Teil der Güter auch auf Laststraßenbahnen und Transportkähne umgeladen. Die Umschlagplätze integrieren jeweils so viele Verkehrsträger wie nötig (von Straße, Schiene, Wasser, Luft). Sie sind keine asphaltiert überbauten Brachflächen, sondern schonend in die Grüngürtel einbezogene Arbeitsgebiete. Von dort gehen auch die Morgenstädter "Cargo Tubes" aus, überdimensionierte Rohrpostsysteme, die in Kanalröhren von rund zwei Metern Durchmesser kleinere Frachtgüter innerstädtisch zustellen.

Urbane ökologische Landwirtschaft
Wegen der ausgefeilten Mobilitätsservicekonzepte, die sich auch auf Überlandfahrten erstrecken, verzichten immer mehr Morgenstädter auf ein eigenes Auto. Die konsequente Verknüpfung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen in nutzungsgemischten Wohnvierteln oder gar Gebäuden hat dazu geführt, dass viele Wege in Morgenstadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden können. Das gibt den Planern und Bewohnern der Stadt viele bisher von Autos belegte Flächen zur freien Gestaltung zurück. Breite, begrünte Fahrradwege und Bürgersteige mit schattenspendenden Bäumen, einladende Plätze in den Wohnvierteln und eine belebte grüne Mitte sind dadurch möglich geworden. Das erhöht nicht nur die Lebensqualität, sondern kompensiert auch verbleibende CO2-Emissionen.

Frischluftschneisen, die aus stadtklimatischen Gründen notwendig sind, sind in Morgenstadt nicht nur gegen neue Bebauung verteidigt, sondern auch durch den Rückbau von Wohnvierteln, deren Bestand energetisch nicht mehr sanierbar war, neu geschaffen worden. Die nachhaltige Gestaltung von Stoffkreisläufen hat sich als Planungskriterium etabliert. Aus Abwässern wird Wärme zurück gewonnen, in der zentralen Kläranlage von Morgenstadt werden die Faulgase verstromt. Die systematische Analyse und Optimierung der wichtigsten Stoffströme Energie, Abfall, Wasser und Abwasser hat sich durchgesetzt. So werden beispielsweise die großen Gemeinschaftsgärten, die in den Frischluftschneisen zwischen den Quartieren entstanden sind, durch wieder aufbereitetes Grauwasser bewässert. Diese urbane ökologische Landwirtschaft trägt nicht nur zur Versorgung der Stadt bei, sondern bringt auch deren Bewohnern Themen der Gesundheit und Ernährung näher.

In Küstenregionen ist aufgrund des steigenden Wasserspiegels zukünftig vermehrt mit Überflutungen zu rechnen. Die Water City ist eine Mischung aus Kreuzfahrtschiff und Insel und schafft in diesen Regionen zusätzlichen Lebensraum.
Foto: © Dominic Schindler Creations
Das Wohnviertel hat sich zur wichtigsten Ebene der Stadtplanung entwickelt. Vor allem in den Quartieren an den Rändern der Stadt durchmischen sich stärker als früher Leben, Arbeiten und Produzieren. Hier stand die Wiege der Stadt der kurzen Wege, in der verschiedene soziale Schichten, Kulturen und Generationen leichter miteinander zu leben lernten als anderswo in Morgenstadt. Insbesondere die dezentrale Energieversorgung, etwa über gemeinsam genutzte Solardächer in einem Straßenzug, gemeinsame Dachgewächshäuser und die miteinander geteilten Fahrzeuge haben hier - unterstützt durch aktives kommunales Quartiersmanagement - identitätsstiftend gewirkt und zu neuen Formen des Zusammenlebens geführt, zum Beispiel in klug geplanten Mehrgenerationenhäusern. In diesen Vierteln verbinden sich größere individuelle Spielräume mit stärkerer Solidarität zu einer kollektiven bzw. kooperativen Individualisierung. In ihnen erhielt die Reurbanisierung Morgenstadts zuerst ein Gesicht, das dann als Vorbild auf eher monokulturell geprägte Stadtteile, die Vororte und in die Innenstadt ausstrahlte. Die Innenstadt ist als durchgängig belebte Mitte zu einem frequentierten Ort des Gemeinschaftslebens und Schauplatz zahlreicher Feste und Veranstaltungen geworden.

Nachhaltigkeit auf dem Lehrplan
Die zunehmende Komplexität ihrer Umgebung war für viele Bewohner Morgenstadts zunächst schwer zu verstehen. Sie durchschauten die Angebote zum Klimaschutz nicht, gerade was deren langfristiges Kosten-Nutzen-Verhältnis betraf. Selbst die Stadtplaner hatten zunächst Schwierigkeiten, überzeugende Lösungen für die komplexe Herausforderung des Umbaus Morgenstadts zur CO2-neutralen Stadt zu entwickeln. Aber der Wille der Stadtverwaltung, klimapolitisch fundierte Entscheidungen treffen zu können und die Einführung neuer Systeme nicht an deren Kompliziertheit und Intransparenz scheitern zu lassen, war groß genug, um die Bürgerinnen und Bürger behutsam für ihr Projekt zu begeistern, die Nummer eins im nationalen Klimaschutz zu werden.

"Komplexitätsreduktion" wurde zum Gebot der Stunde. Praktische Fragen der Energie- und Ressourceneffizienz standen bald auf den Lehrplänen der Morgenstädter Schulen und Volkshochschulen. An der Morgenstädter Universität wurde damals der bundesweit erste interdisziplinäre KEMO Studiengang eingerichtet (Klima/Energiemanagement und -organisation), der das Berufsbild des akademisch ausgebildeten Energieberaters populär werden ließ. Die Verwaltung von Morgenstadt machte sich als Pionier detaillierter Potenzialanalysen verdient, die es ihr erlaubten, gezielt an den effektivsten klimapolitischen Hebeln anzusetzen. Dabei setzte sie auch unbequeme Maßnahmen durch, wie etwa Gebührenerhöhungen durch den Klimaschutz-Cent, der Wissenschaft und Forschung zugute kommt. Denn diese haben in Morgenstadt nichts von ihrer Dynamik verloren. Andererseits weist die Stadt auf alle Einsparmöglichkeiten hin und sorgt für deutlich günstigere Tarife im ÖPNV. All das schuf Verunsicherung, insgesamt aber eine Atmosphäre der Wissbegier, in der die Menschen neugierig darauf wurden, neue Verhaltensformen einzuüben. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger von Morgenstadt nahmen aktiv an der Gestaltung ihrer Stadt teil. Dabei kam es zu kontroversen Diskussionen. Beispielsweise beschwerten sich manche Bewohner über eine Verschandelung des Altstadtbildes durch uniforme Solardächer. Andere fragten, wie sie die höheren Mieten in sanierten Altbauten bezahlen sollten.

Es grünt so grün...
So schön könnte der Ausblick in der Stadt der Zukunft sein.
Foto: © Surbana Urban Planning Group (SUPG)
Vehement wurde die Forderung nach Kostenwahrheit bei der Bewertung der unterschiedlichen Verkehrsträger gestellt. Der Schutz persönlicher Daten vor allzu intelligenten Stromanbietern war ein Dauerthema. All diese Diskussionen haben die Entwicklung Morgenstadts für die meisten Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar und mitgehbar werden lassen. Sie identifizieren sich stärker mit ihrer Stadt als ihre Vorfahren - und können die Früchte von deren früh begonnenem Umbau zur CO2-Neutralität genießen. Ihre Energiekosten sind wesentlich niedriger als in vergleichbaren Städten Deutschlands, was auch unter sozialen Gesichtspunkten vorteilhaft ist. Die Mobilitätsangebote sind deutlich attraktiver und einfacher zu nutzen. Auch weil kein Öl und Gas mehr verbrannt werden, hat sich die Lebensqualität erhöht. Außerdem ist die Energieversorgung sicherer als in vielen anderen Regionen Europas. Vor allem aber hat sich der Wohlstand der Stadt erhöht, da durch ihren Umbau Arbeitsplätze in den Zukunftstechnologien geschaffen und neue Unternehmen im Energiebereich angelockt wurden. Ein großer Teil der Finanzmittel, die früher für Energie ins Ausland abfl ossen, bleibt heute in der Stadt und der Region.


Die Experten

Folgende Experten waren im Auftrag von Bundesforschungsministerin Annette Schavan und Hans-Jörg Bullinger, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, an der Erarbeitung der dargestellten Ergebnisse beteiligt:

















  • Dr. Steffen Braun, Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation
  • Dr. Ing. Wulf-Holger Arndt, Technische Universität Berlin, Zentrum Technik und Gesellschaft, Bereich "Mobilität und Raum"
  • Dr. Richard Aumayer, Robert Bosch Gmbh, C/AGR, External Affairs, Governmental and Political Relations
  • Barbara Dörsam, MVV Energie AG, Neue Technologien
  • Attila Dahmann, Bundesverband Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften
  • Klaus Illigmann, Landeshauptstadt München, Referat für Stadtplanung und Bauordnung/ Stadtentwicklungsplanung
  • Prof. Matthias Koziol, Technische Universität Cottbus, Institut für Städtebau und Landschaftsplanung, Lehrstuhl Stadttechnik
  • Klaus Krumme, Universität Duisburg-Essen, Zentrum für Logistik & Verkehr
  • Mathias Maerten, Siemens AG, Energy Sector, Technology & Innovation
  • Inka Mörschel, Fraunhofer IAO, Büro der Forschungsunion
  • Dr. Uwe Pfenning, Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Technik- und Umweltsoziologie
  • Dr. Jörg Pietsch, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
  • Dr. Jörg Kruhl, E.ON Energie aG
  • Gerhard Stryi-Hipp, Fraunhofer Institute for Solar Energy Systems
  • Sebastian Seelig, Technische Universität Berlin, Institut für Stadt- und Regionalplanung
  • Dr. Volker Stelzer, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruhe
  • Dr. Michael Weinhold, Siemens AG, Energy Sector
  • Sabine Wischermann, Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Energiesysteme und Energiewirtschaft
  • Dr. Andreas Witte, RWTH Aachen, Institut für Stadtbauwesen und Stadtverkehr



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Quelle:
Gesellschaft | Green Cities, 01.01.2010

     
        
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