Urban Farming

Das neue Interesse am Gärtnern in der Stadt

Ein Gespenst geht um in Deutschland, ein fröhliches buntes Gespenst mit Dreck unter den Fingernägeln: der neue Gärtner. Er ist in aller Munde, in allen Medien. Er - und sie natürlich - ist jung, umweltbewusst, politisch. Was er tut, hat viele Namen: Urban Gardening, City Farming, Gemeinschaftsgärten, mobile Landwirtschaft, Stadtlandwirtschaft, urbane Subsistenz - selbst der Schrebergarten hat sein Spießerimage abgelegt und ist plötzlich salonfähig. Auch Firmen mischen mit.

Buddelnde Stadtkinder: Um die Umgebung zu verschönern und die "Wurzeln" der Lebensmittelerzeugung hautnah zu erleben, widmen sich immer mehr Menschen dem Urban Gardening.
Foto: © Green City e.V.
Worum geht es? Es geht ums Pflanzen, Säen, Ernten, um Selbstversorgung, um frisches gesundes Gemüse, aber nicht nur. Es geht darum, etwas Sinnvolles zu tun, gemeinsam mit anderen, aber nicht zuletzt für einen selber. Es geht darum, wieder teilzuhaben am Prozess der Lebensmittelerzeugung, dessen Mainstream trotz Öko-Booms und trotz aller Appelle zum regionalen Wirtschaften immer weiter industrialisiert und globalisiert wird. Produkte wie der Analogkäse, der kein Käse ist, und die immer dreisteren Lügen auf den Verpackungen schärfen das Bewusstsein dafür, wie sehr sich die sogenannte Food-Industrie von der Alltagswirklichkeit der Menschen entfernt hat.

"Die Leute fühlen sich zunehmend abgeschnitten vom Produktionskreislauf der Lebensmittel", urteilen die Buchautoren Daniel Dahm und Gerhard Scherhorn, und Christa Müller von der Stiftung Interkultur beobachtet, die Menschen wollten "wieder mehr Gestaltungsspielraum und Kontrolle, und sie haben zunehmend das Bedürfnis, sich selbst als produktiv zu erleben." Und natürlich spielt auch die sinnliche, archaische Erfahrung eine Rolle, die aus der Beschäftigung mit Pflanzen erwächst. "Die tiefe Befriedigung, Dinge wachsen zu sehen", erklärt Georg von Gayl, Landesvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur in Berlin-Brandenburg, "die Lust am Garten, die Sehnsucht nach dem Gras der Kindheit - das sind einfach ganz alte und starke Gefühle."

Die verbreitetste Form des neuen Gärtnerns sind die "Selbsterntegärten", die meist am Rand von größeren Städten liegen. Das sind landwirtschaftliche Flächen, die im Frühjahr von professionellen Gärtnern mit vorgezogenem Gemüse bepflanzt und dann von den saisonalen Pächtern in Besitz genommen werden - für eine Gebühr, die je nach Angebot bei 150 bis 300 Euro liegt. Einen Sommer lang dürfen die Neugärtner dafür auf ihrer Fläche gießen, jäten und alles ernten, was dort wächst; Platz für eigene Ideen ist auch noch vorhanden. Der Vorteil: Auch wer wenig Erfahrung mit dem Gärtnern hat, kann hier sofort Erfolgserlebnisse einfahren und unter Anleitung lernen. Die Stadt München setzt dies mit ihrer "Krautgarten-Initiative" bereits seit 1999 um; die Parzellen sind jedes Jahr ausgebucht. In anderen Städten gibt es ähnliche Angebote. Und die hessische Supermarktkette tegut hat mit ihrer "Saisongarten-Initiative" ein eigenes Projekt gestartet, mit dem sie ihre Kunden dazu ermuntert, selbst Gemüse anzubauen.

Das Flaggschiff der urbanen Gärtner ist der Prinzessinnengarten in Berlin, mitten in Kreuzberg auf einer 6.000 Quadratmeter großen Stadtbrache. In mobilen Beeten - mit guter Erde, nicht in dem verseuchten Stadtboden - werden hier Salat, Obst und Gemüse angebaut, im eigenen Café verarbeitet und verkauft. Schulkinder lernen, wie Radieschen wachsen, was eine Rauke ist und dass es unglaublich viele Sorten Tomaten gibt; Politiker aus aller Welt schauen vorbei, Abgesandte der Berliner Senatsverwaltung, Dortmunder Studenten helfen ebenso mit wie die Nachbarn aus dem Kiez. Der Prinzessinnengarten ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte geworden; schon gibt es Nachahmer in Hamburg ("Gartendeck"), Köln ("NeuLand"), München ("O'pflanzt is") und anderen Städten.

"Mein Garten vor der Tür": Anwohner gestalten ihr Viertel selbst, hier in München-Haidhausen.
Foto: © Green City e.V.
Geradezu existentielle Bedeutung bekommt das Gärtnern plötzlich für die schrumpfenden Städte. In Gegenden, die unter dem Strukturwandel leiden, besonders im Osten Deutschlands, verlieren die Städte zum Teil massiv an Einwohnern. Die Stadt Dessau-Roßlau (bis 2007 nur Dessau) hat in den letzten zwanzig Jahren ein Fünftel ihrer Einwohner eingebüßt, ganze Straßenzüge mussten aufgegeben werden. Bei Stadtplanern hat sich für solche Fälle bereits der Begriff "perforierte Stadt" durchgesetzt. Dessau nahm die Krise als Chance und beteiligte seine Bürger an der Gestaltung der freigewordenen Flächen; Motto: "Wo Gebäude fallen, entstehen Gärten". Jeder, der ein Konzept einreichte, durfte sich um einen 400 Quadratmeter großen "Claim" bewerben - und viele der erfolgreichen Konzepte waren Gärten. Ein internationaler Verein legte einen Interkulturellen Garten an, der Imkerverein eine Bienenweide; es entstanden ein "Apothekergarten" mit Heilpflanzen und ein Erdbeerfeld.

In den USA wird Detroit zum Vorreiter der neuen Entwicklung. Die einstige Hauptstadt des US-Automobilbaus wurde von der Realität zum Umdenken gezwungen; Detroit ist von zwei Millionen Einwohnern auf 800.000 geschrumpft. Ganze Stadtviertel sind weitgehend verödet; es gibt teilweise kaum noch Geschäfte, in denen die Menschen sich fußläufig versorgen können. Hier entstehen vermehrt Gärten und Stadtfarmen, die wiederum neu entstehende lokale Wochenmärkte bestücken. Auf den Märkten können Sozialhilfeempfänger ihre Lebensmittelkarten einsetzen und bekommen dort mehr dafür als im Supermarkt. Der preisgekrönte Dokumentarfilm "Grown in Detroit" bringt den Wandel auf den Punkt: "Nature is taking over the city, and a new generation is taught to harvest its profits" - die Natur erobert die Stadt, und eine neue Generation lernt die Ernte einzufahren.

Der neueste Trend in den USA sind die "Company Gardens", die manche Firmen für ihre Mitarbeiter anlegen. Die Internetkonzerne Google und Yahoo gehörten zu den ersten, dann folgten Pepsi und Intel. Inzwischen sind mehrere mittelständische Unternehmen gefolgt, nachdem die New York Times 2010 einen großen Artikel zum Thema brachte. Noch ist nicht klar, ob es sich eher um eine Mode handelt oder um eine echte Bewegung; die Motivation der Unternehmen scheint auch jeweils unterschiedlich zu sein. Während es bei Google zum guten Ton gehört, Trendsetter zu sein, wollen andere Firmen mit den Gärten die Motivation und den Zusammenhalt der Mitarbeiter stärken - was ja schon bei Incentive-Programmen nicht immer funktioniert. Die besten Aussichten haben wohl Gärten, die auf ausdrücklichen Wunsch der Mitarbeiter zustande kommen, wie etwa bei Intel. Aber wer weiß, vielleicht wird in einigen Jahren bei größeren Firmen der Garten ganz selbstverständlich dazugehören?
 
 
Von Martin Rasper

Quelle:
Lifestyle | LOHAS & Ethischer Konsum, 17.01.2012
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2011 - Stadt der Zukunft erschienen.
     
        
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